Hersteller bewerben MelatoninMelatonin Melatonin – ein Hormon, welches den Tag-Nacht-Rhythmus steuert – wird größtenteils im Gehirn durch die Zirbeldrüse synthetisiert. Seine Ausschüttung ist abhängig von der Tageslichtmenge, die auf die Netzhaut des Auges fällt. Dunkelheit regt die Ausschüttung an, weswegen es auch Schlafhormon genannt wird. Melatonin wird in letzter Zeit vermehrt als Wundermittel gehandelt. Es soll zusätzlich zu Schlafstörungen als Anti-Aging-Agenz und gegen Krebs wirken. In Deutschland wurde bisher nur ein Medikament mit Melatonin zugelassen. Dies ausschließlich zur kurzfristigen Einnahme von Patienten über 55, bei denen eine (auf keiner Krankheit beruhende) Schlafstörung besteht. Hochdosierte Melatonin-Präparate sind zudem verschreibungspflichtig. Über die schlafstimulierende Wirkung hinausgehende Anwendungen sind bisher nur unzureichend untersucht. Dies gilt ebenso für Langzeit-, Neben- und Wechselwirkungen des Hormons sowie für die Einnahme durch Schwangere und Stillende. Ungeachtet dessen wird das Hormon in Form von Nahrungsergänzungsmitteln und Sprays vertrieben. seit Jahren als Schlafmittel. Viele Menschen versorgen sogar ihre Kinder mit Nahrungsergänzungsmitteln, die das Hormon enthalten. Diese sind aber kaum reguliert. Schlafexperten bezweifeln die Wirksamkeit der Produkte und warnen vor Überdosierungen.
Fruchtgummis in Form kleiner, schwarzer Sternchen – das sind die beliebtesten Melatonin-haltigen NahrungsergänzungsmittelNahrungsergänzungsmittel Nahrungsergänzungsmittel werden den Lebensmitteln zugeordnet und sind abgegrenzt von Medikamenten zu betrachten. So dürfen sie, wie der Name schon sagt, die normale Ernährung ergänzen, sie jedoch nicht ersetzen und zudem keine arzneiliche Wirkung zeigen. Sie werden als Kapseln, Tabletten, Tropfen oder Ähnliches angeboten und enthalten oft Vitamine, Mineralstoffe oder sonstige Nährstoffe, die eine Wirkung erzielen sollen. Sie dürfen jedoch nicht wie ein Arzneimittel beworben werden. Die Hersteller dürfen keine spezifische Wirkung wie die Linderung oder Vorbeugung einer Krankheit anpreisen oder für ein definiertes Anwendungsgebiet werben.Die Verordnung über Nahrungsergänzungsmittel (NemV) regelt den Umgang mit diesen. Für eine Markteinführung bedarf es keinerlei Zulassung, jedoch wird ein Anzeigeverfahren beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit durchlaufen. Nahrungsergänzungsmittel sind zudem frei verkäuflich. Sie müssen als solche gekennzeichnet und auf ihrem Etikett sich folgende Angaben befinden: Menge und Dosis der Inhaltsstoffe, empfohlene tägliche Verzehrmenge, die nicht überschritten werden sollte, ein Hinweis, dass Nahrungsergänzungsmittel eine ausgewogene Ernährung nicht ersetzen können sowie die Warnung, das Produkt nicht in Reichweite von Kindern aufzubewahren.Wer gesund ist, sich ausgewogen und abwechslungsreich ernährt benötigt keinerlei Nahrungsergänzungsmittel. Unter bestimmten Mangelbedingungen kann die Einnahme sinnvoll sein. Zu beachten sind hierbei mögliche Wechselwirkungen mit Arzneimitteln. Zink ist ein gutes Beispiel dafür. Es wird oft als Immun-Booster angepriesen. Die langfristige Einnahme von Zink kann jedoch einen Kupfermangel auslösen. Noch wichtiger: Zink bildet in manchen Fällen Komplexe mit arzneilichen Wirkstoffen und schwächt diese in ihrer Wirkung ab. Wird es eingenommen, um einem Zinkmangel entgegenzuwirken muss wiederum darauf geachtet werden, welche Nahrungsmittel dazu eingenommen werden. Aus diesen Gründen sollte die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln mit einem Arzt abgeklärt werden.Bei Internetkäufen besteht zudem das Risiko unbemerkt auf unseriöse Angebote zu stoßen. bei Amazon. Der Verkaufsplattform zufolge zählt es zu den Top-20 der Kategorie „Multivitaminpräparate und Mineralien“. Eine Käuferin hinterlässt folgende Bewertung: „Mit einem Gummitier, welches auch noch gut schmeckt, braucht man für die Einnahme keine Überzeugungskraft leisten.“1https://www.amazon.de/gp/customer-reviews/R1FTYVG76XOW88/ref=cm_cr_arp_d_rvw_ttl?ie=UTF8&ASIN=B0BNQ18NZZ
Von den Fruchtgummis erhoffte sie sich einen leichteren Schlaf für die ganze Familie. Und sie scheint von der Wirkung überzeugt. Weil Melatonin ein körpereigenes Hormon sei, schreibt sie, sollte es ja auch nicht gefährlich sein. Ihr Urteil: „Super“ – fünf von fünf Sternen.
Melatonin sagt dem Körper nur, dass es draußen dunkel ist. Mehr macht es nicht.
Markus Specht
Doch eine Entdeckung macht sie stutzig: „Die Mengenangaben auf der Packungsbeilage unterscheiden sich im deutschen Teil von den anderen Sprachen“, schreibt sie im Kommentar und schickt Fotos des Behälters sowie der Packungsbeilage mit. In deutscher Sprache steht auf dem Fruchtgummi-Behälter, dass eine „Portion“ 0,5 Milligramm Melatonin enthält. Wer Italienisch spricht, nimmt augenscheinlich 1 Milligramm Melatonin auf, und zwar pro „1 gommina“. Die Lösung findet sich ebenfalls bei Amazon: „Kauen Sie ein halbes Gummibärchen pro Tag“, empfiehlt der Hersteller im deutschsprachigen Einnahmehinweis. Eine Empfehlung mit handfestem Hintergrund – doch dazu gleich mehr.
Neben Fruchtgummis sind heute unzählige Kapseln, Tabletten oder Sprays mit mit dem Schlafhormon im Handel. Strenge Kontrollen und Studien zur Sicherheit fehlen. Oft nehmen Verbraucher:innen und deren Kinder willkürliche Mengen über einen langen Zeitraum auf. Doch welchen Nutzen bringt das – und wie unbedenklich sind die Produkte?
Melatonin enttäuscht Schlafmediziner
Melatonin ist als Schlafhormon bekannt.2https://www.nature.com/articles/s41398-021-01464-x Es wird natürlicherweise vor allem nachts ausgeschüttet. Die körpereigene Melatonin-Produktion schiebt unsere „innere Uhr“ an – ungefähr im 24-Stunden-Rhythmus. Die Ausschüttung wird unterdrückt, wenn Licht auf unserer Netzhaut im Auge landet. Bei jungen Menschen steigt der Melatonin-Gehalt im Blut nachts nicht selten um den Faktor zwölf.
Die Wirkungen des Hormons gehen jedoch darüber hinaus, wenig verstehen Forscher:innen bislang vollständig. So scheint körpereigenes Melatonin die Wachsamkeit zu beeinflussen, aber auch auf Gefühle wie Angst oder das ImmunsystemImmunsystem Das Immunsystem schützt den eigenen Organismus vor Schadstoffen aus der Umwelt sowie vor Krankheitserregern wie z.B. Bakterien, Viren und Parasiten. Die Bekämpfung von Krebszellen gehört ebenso dazu. Aktiviert wird das Immunsystem durch Antigene, d.h. körperfremde Stoffe, wie z.B. Oberflächenproteine von Bakterien oder Viren. Infolgedessen wird eine Reihe weiterer Prozesse in Gang gesetzt. Beim ersten Kontakt mit einem Fremdstoff wird die Information darüber gespeichert, um bei einem erneuten Aufeinandertreffen schneller und effizienter reagieren zu können. So werden die Reaktionen des Immunsystems in zwei Typen unterschieden: Die angeborene (unspezifische) sowie die erworbene (spezifische) Abwehr. Diese zwei Mechanismen sind, trotz ihrer Unterschiede, eng verzahnt miteinander. Die unspezifische Abwehr arbeitet vor allem mit Fress- und Killerzellen über Haut, Schleimhäute sowie über Signalstoffe. Die erworbene Immunantwort agiert über spezifische Antikörper, die gegen Krankheitserreger wirken, mit denen der Organismus vorher bereits in Kontakt war; hier spielen T- und B-Zellen die Hauptrolle. Richtet sich die Immunabwehr fälschlicherweise gegen Oberflächenproteine des eigenen Körpers, spricht man von Autoimmunkrankheiten. einzuwirken. Möglicherweise produziert der Körper im Alter weniger Melatonin.
In den 1990er-Jahren hofften Arzneimittelhersteller, mit Melatonin ein umsatzstarkes Schlafmittel auf den Markt bringen zu können.3https://www.aerzteblatt.de/archiv/12297/Traum-und-Realitaet-in-der-Melatoninforschung7 In Form von Kapseln oder Fruchtgummis geschluckt, wird Melatonin schnell abgebaut. Das Pharma-Unternehmen Lundbeck verpackte deshalb zwei Milligramm Melatonin in spezielle Tabletten, die den Wirkstoff langsam über Stunden verteilt freigeben. Sie kamen später unter dem Namen „Circadin“ auf den Markt.4https://medtech.pharmaintelligence.informa.com/SC023764/Lundbeck-launches-Circadin-in-central-Europe
Nicht nur Melatonin wird kaum reguliert, bevor es auf den Markt kommt. Die unterhaltsame Wissenschaftsshow MAITHINK X klärt in ihrer neuen Folge auf, wie es sein kann, dass gefährliche und sinnlose Nahrungsergänzungsmittel verkauft werden. Die Folge ist ab dem 12. März um 18:00 Uhr in der Mediathek zu sehen und um 22:15 Uhr auf ZDF.
Zuvor musste Lundbeck die Wirksamkeit des Arzneimittels anhand einer klinischen Studie belegen. Doch eine erste Studie brach die Firma ab – angeblich, weil ein Drittel der PatientPatient Ein Patient / eine Patientin ist eine Person, welche in ärztlicher Behandlung oder Betreuung steht. Der Begriff bezieht sich nicht zwangsläufig auf kranke Menschen. Denn neben diesen zählen z.B. auch Blutspender, Neugeborene, Schwangere, zu impfende Personen und diejenigen, welche sich einer Vorsorge-Untersuchung unterziehen zu dieser Gruppe. Ein Patient geht mit seinem Behandler eine Rechtsbeziehung ein, nachdem dem Patienten eine ordnungsgemäße Behandlung nach aktuellem wissenschaftlichem Standard zusteht. Patient*innen in Deutschland haben zudem sog. Patientenrechte, mit entsprechenden Gesetzen und Regelwerken. Im deutschen Gesundheitssystem wird zwischen Kassen- und Privatpatienten unterschieden. Für erstere kommt die Gesetzliche Krankenkasse für die Behandlungskosten auf; letztere werden von Privaten Krankenkassen finanziert.:innen nicht an einer primären Schlafstörung litt, eine Schlafstörung, die nicht von einer anderen Erkrankung herrührt. Ein zweiter Anlauf lieferte schwache Resultate: Statistisch profitierte nur eine:r von neun Patient:innen von einer Melatonin-Gabe. Und das auch nur unter bestimmten Bedingungen, für die das ArzneimittelArzneimittel Arzneimittel sind Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die angewandt werden, um Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder Beschwerden zu heilen, zu lindern oder zu verhüten. Es kann sich hierbei ebenfalls um Mittel handeln, die dafür sorgen, dass Krankheiten oder Beschwerden gar nicht erst auftreten. Die Definition beinhaltet ebenso Substanzen, die der Diagnose einer Krankheit nutzen oder seelische Zustände beeinflussen. Die Mittel können dabei im Körper oder auch am Körper wirken. Das gilt sowohl für die Anwendung beim Menschen als auch beim Tier. Die gesetzliche Definition von Arzneimitteln ist im § 2 Arzneimittelgesetz (AMG) enthalten. bis heute zugelassen ist: Zur kurzzeitigen Anwendung bei Patient:innen über 55 Jahren, die an primären Schlafstörungen mit schlechter Schlafqualität leiden.
In der Schlafmedizin machte sich Ernüchterung breit, die bis heute anhält. Zuletzt bestätigte im Jahr 2022 ein internationales Forschungskonsortium in einer systematischen Übersichtsarbeit zu Schlafstörungen: Zur Behandlung von Schlafstörungen ist Melatonin im Vergleich zu anderen Schlafmitteln wie Eszopiclon oder Lemborexant wenig effektiv. Daten zum kurzfristigen Nutzen seien sehr schwach; zum langfristigen Nutzen fehlten sie komplett.
Trotz fehlender Wirknachweise – Nahrungsergänzungsmittel mit Melatonin boomen
Markus Specht begegnet Melatonin bei seiner Arbeit fast täglich. Der Diplom-Psychologe und Schlafforscher leitet in Wiesbaden das interdisziplinäre Zentrum für Schlafmedizin. Ein zunehmender Teil seiner Patient:innen nähme die Produkte ein, sagt er im Gespräch mit MedWatchMedWatch MedWatch ist eine gemeinnützige UG und klärt seit 2017 auf medwatch.de über gefährliche und unseriöse Heilversprechen auf. Seit 2021 wird das Online-Magazin von Nicola Kuhrt geleitet. Vor allem Gesundheitsangebote im Internet – Methoden, Arzneimittel und Produkte – sowie gesundheitspolitische Versprechen werden genau beobachtet. Denn nicht jede Gesundheitswerbung und nicht jede Koalition hält, was sie verspricht. Vor allem falsche Berichterstattungen und irreführende Marketing-Strategien können lebensbedrohliche Folgen haben. Aus diesem Grund möchte MedWatch seine Leser ausführlich, inhaltlich präzise sowie evidenzbasiert aufklären und auch auf Missstände im Gesundheitssystem hinweisen. Dafür recherchiert und arbeitet ein heterogenes Team aus Wissenschaft und Medizin sowie ein unabhängiger Beitrat.. Für ihn sei das ein Indiz dafür, „dass es deutlich mehr Menschen gibt, die gefühlt nicht gut schlafen“.
In seiner KlinikKlinik Der Begriff Klinik ist ein Synonym für Krankenhaus. Beispiele hierfür sind Universitätskliniken, Unfallkliniken, Polikliniken…, also Einrichtungen des Gesundheitswesens zur stationären und/oder ambulanten Behandlung sowie der pflegerischen Betreuung. In der Medizin wird von Klinik gesprochen, wenn das Erscheinungsbild sowie der Verlauf einer Krankheit genauer beschrieben wird. Gemeint ist damit das klinische Bild der Erkrankung. Zudem wird der praktische Teil des Humanmedizinstudiums Klinik genannt. Hierbei findet die Ausbildung im Krankenhaus statt. motiviert Specht diese Patient:innen, lieber die Ursache der Schlafstörungen zu behandeln. Das ginge meist nur mit konsequenten Änderungen des Lebensstils: Weniger Stress, das Handy abends zur Seite legen. Gelingt das, seien in der Regel keine MedikamenteMedikamente Medikamente / Arzneimittel sind Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die angewandt werden, um Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder Beschwerden zu heilen, zu lindern oder zu verhüten. Es kann sich hierbei ebenfalls um Mittel handeln, die dafür sorgen, dass Krankheiten oder Beschwerden gar nicht erst auftreten. Die Definition beinhaltet ebenso Substanzen, die der Diagnose einer Krankheit nutzen oder seelische Zustände beeinflussen. Die Mittel können dabei im Körper oder auch am Körper wirken. Das gilt sowohl für die Anwendung beim Menschen als auch beim Tier. Die gesetzliche Definition von Arzneimitteln ist im § 2 Arzneimittelgesetz (AMG) enthalten. nötig. Doch dieser Weg ist mühseliger als abends eine Tablette zu schlucken. Diese Bequemlichkeit nutzen Nahrungsergänzungsmittel-Hersteller aus.
Für sie ist der Markt äußerst lukrativ, denn sie müssen, anders als bei Arzneimitteln, keine Studien durchführen, in denen die Mittel auf Sicherheit, Qualität oder Wirksamkeit geprüft werden. Eine Folge: Der Handel mit Melatonin-Supplementen floriert weltweit5https://www.bvl.bund.de/DE/Arbeitsbereiche/01_Lebensmittel/03_Verbraucher/04_NEM/01_NEM_Arzneimittel/NEM_Arzneimittel_node.html.
Im Jahr 2022 berichteten Forscher:innen in einer wissenschaftlichen Mitteilung, dass US-Amerikaner:innen ihren Konsum von Melatonin-haltigen Nahrungsergänzungsmitteln über 20 Jahre hinweg signifikant gesteigert hatten: In der untersuchten Bevölkerungsgruppe nahm in den Jahren 1999 bis 2000 nur einer von 250 Menschen eigenständig Melatonin, 2018 war es schon fast jeder fünfzigste.
Zudem wuchs der Anteil der Menschen, die hohe Dosierungen von bis zu fünf Milligramm Melatonin pro Tag einnehmen. Und das, obwohl großangelegte Studien zur Sicherheit fehlen.
Melatonin – nur ein Placebo?
Wegen der schlechten Studienlage empfiehlt Schlafforscher Specht solche Präparate seinen Patient:innen grundsätzlich nicht. Hinzu kommt: Weil Melatonin schnell verstoffwechselt werde, komme bei den meisten Supplementen ohnehin kaum Melatonin im Blutkreislauf an. Trotzdem berichteten ihm zahlreiche Patient:innen, dass ihnen die angereicherten Fruchtgummis, Sprays oder Tabletten helfen. Specht fragt sich, warum: „Ist es nur der Placebo-Effekt oder beruht die Wirkung auf Melatonin?“
Gleichzeitig birgt der Trend zur Eigenbehandlung Gefahren. Es gibt Gründe für Schlafstörungen, die dringend behandelt werden müssen, zum Beispiel schwerwiegende Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Schlafapnoe. In diesen Fällen bringt es nichts, allein das Symptom „Schlafstörung“ mit Melatonin-Präparaten zu behandeln. Schlafforscher Specht beobachtet, dass viele Patient:innen sich zu spät Hilfe suchen, um ihre Schlafstörung in den Griff zu bekommen. „Viele kommen erst dann, wenn das Problem schon schwer chronifiziert ist“, sagt er.
Überdosis mit fatalem Ausgang
Obwohl das Schlafhormon als vergleichsweise gut verträglich gilt, treten häufig NebenwirkungenNebenwirkungen Laut Arzneimittelgesetz sind Nebenwirkungen schädliche und unbeabsichtigte Reaktionen auf ein Arzneimittel. Sie sind Wirkungen eines Medikaments, die nicht zu der beabsichtigten Wirkung gehören und zusätzlich auftauchen. Auch Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten und Substanzen, Folgen von Überdosierungen und die Entwicklung von Abhängigkeiten können dazu gezählt werden. Zudem erfolgt eine Unterteilung in Arzneistoff-typische und unvorhersehbare Nebenwirkungen. Erstere sind erwartet und konzentrationsabhängig; letztere sind mengenunabhängig, wie z.B. Allergien auf Inhaltsstoffe des Präparates. Des Weiteren werden sie nach ihrer Häufigkeit eingeteilt, so existieren sehr häufige, häufige, gelegentliche, seltene und sehr seltene Nebenwirkungen. Diese Begrifflichkeiten sind an feste prozentuale Werte gekoppelt. So müssen sie auch verpflichtend im Beipackzettel eines pharmakologischen Präparates aufgelistet sein. Zudem werden sie manches Mal in erwünschte und unerwünschte eingeteilt. Dementsprechend können einige unerwartete Nebenwirkungen für manche Patientengruppen von Vorteil sein, für andere wiederum nicht. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden jedoch hauptsächlich die unerwünschten Wirkungen als Nebenwirkung bezeichnet. Ein behandelnder Arzt muss je nach Schwere der unerwünschten Wirkungen abschätzen, ob der Nutzen des Präparates das jeweilige Risiko aufwiegt. wie Kopfschmerzen, Übelkeit und Müdigkeit auf. Gefährlich wird es aber, wenn Menschen Melatonin überdosieren. In den USA hat sich die Zahl der Vergiftungen mit Melatonin zwischen 2012 und 2021 versechsfacht. Allein im Jahr 2021 zählte die US-amerikanische Gesundheitsbehörde CDC mehr als 50.000 Vergiftungsfälle bei Kindern. 287 Kleinkinder mussten daraufhin auf der Intensivstation behandelt werden, zwei von ihnen starben.
Auch der Giftnotruf der Charité Universitätsmedizin Berlin verzeichnet deutlich mehr Anfragen zu Melatonin als noch vor ein paar Jahren, wie uns eine Sprecherin mitteilt. Schwere Fälle von Vergiftungen mit Melatonin seien allerdings noch nicht aufgefallen, die Mediziner:innen der Charité betrachten Melatonin deshalb als „verhältnismäßig harmlos“.
Diese Einschätzung teilt Markus Specht nicht. „Wer ein Medikament nimmt, das nicht wirkt, erhöht oft einfach die Dosis – und bemerkt nicht, dass der Körper an seine Grenze stößt, die Stoffe abzubauen“, sagt der Schlafforscher.
Melatonin vor Gericht: Arzneimittel oder nicht?
Für Verbraucher:innen ist der Nahrungsergänzungsmittel-Markt undurchsichtig und unsicher: Im Jahr 2017 untersuchten kanadische Forscherinnen 30 gängige Melatonin-Produkte, die es in den USA zu kaufen gab.6https://jcsm.aasm.org/doi/10.5664/jcsm.6462#d1e393 Einige Präparate erhielten weniger Melatonin als angegeben, andere jedoch mehr als die fünffache Menge. Bei einem Produkt fanden die Forscherinnen sogar Schwankungen beim Melatoningehalt von mehr als 450 Prozent zwischen unterschiedlichen Chargen desselben Produktes. Acht Präparate enthielten zusätzlich Serotonin, das nach der Einnahme zu Angst, Herzrhythmusstörungen und Krämpfen führen kann.
In Deutschland streiten Behörden und Hersteller, wann Melatonin-Produkte als Arzneimittel gelten. Urteilen Landesbehörden, dass ein Melatonin-Produkt kein Nahrungsergänzungsmittel, sondern ein Arzneimittel ist, müsste der Hersteller es als solches zulassen und Studien vorlegen.
Laut GesetzGesetz Ein Gesetz benennt ein festes Ordnungsprinzip z.B. in der Natur. Rechtlich gesehen handelt es sich um eine verbindliche Vorschrift wie sich einzelne Mitglieder einer Gesellschaft (Rechtsgemeinschaft) zu verhalten haben. Die Legislative ist die Gesetzgebung, hier wird ein Recht wird gesetz. Die Judikative hingegen ist die Rechtsprechung durch Gerichte. Die Exekutive ist die Ausübung, also der Vollzug des Gesetzes durch Verwaltungsbehörden. handelt es sich dann um ein Arzneimittel, wenn von einer pharmakologischen Wirkung auszugehen ist und es unmöglich sei, vergleichbare Mengen der Inhaltsstoffe auch über LebensmittelLebensmittel Laut EU-Lebensmittelrecht handelt es sich bei Lebensmitteln um pflanzliche oder tierische Stoffe und Produkte, die für die menschliche Ernährung geeignet sind. Lebensmittel dienen der Ernährung, befriedigen das Grundbedürfnis der Sättigung, als auch dem Genuss. Das Lebensmittelrecht regelt zudem die Lebensmittelhygiene, den Verkauf sowie die Kennzeichnung von Lebensmitteln. Lebensmittel lassen sich in Nahrungsmittel, Genussmittel, Lebensmittelzusatzstoffe sowie Nahrungsergänzungsmittel einteilen. Im Gegensatz dazu gehören z.B. Arznei- und Betäubungsmittel, Futtermittel sowie Tabak und Tabakerzeugnisse nicht dazu. In Lebensmitteln können sich Aromastoffe, Geschmacksstoffe und Lebensmittelzusatzstoffe befinden. aufzunehmen. Hersteller behaupteten immer wieder, dass auch PistazienPistazien Pistazien sind die Kerne aus den Steinfrüchten des immergrünen Pistazienbaumes, welcher in warmen Gebieten wie dem Mittelmeerraum und Kalifornien angebaut wird. Die Pflanze gehört der gleichen Familie wie der Cashewbaum an (Sumachgewächse). Pistazien enthalten viele Proteine, gesunde Fette, Kohlenhydrate, Ballaststoffe, Vitamine, Mineralstoffe und sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe (z.B. Polyphenole und Carotinoide). Auf Grund dieser gehaltvollen Zusammensetzung sind sie oft Bestandteil einer ausgewogenen Ernährung, allerdings kann sie allergische Reaktionen auslösen. Zudem können Pistazien Schimmelpilze und Rückstände von Pestiziden enthalten. Dafür existieren gesetzlich definierte Grenzwerte., Gurken oder Bananen relevante Mengen Melatonin enthalten können. Das gilt heute als widerlegt, wie unser MedWatch-Artikel zum Schlafhormon Melatonin und Pistazien erklärt.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukt (BfArMBfArM Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist zuständig für die Zulassung und Registrierung von Arzneimitteln, Arzneimittelsicherheit (Pharmakovigilanz) sowie für die Risikoerfassung und -bewertung von Medizinprodukten. Es regelt sowohl das legale Inverkehrbringen von Betäubungsmitteln und ihren Ausgangsstoffen als auch deren Herstellung, Anbau und Handel. Das BfArM agiert ebenso dafür Forschung und regulierende Tätigkeiten miteinander zu vernetzen.) stufte als Folge eine Kapsel mit 0,5 Milligramm Melatonin, die als Nahrungsergänzungsmittel auf dem Markt war, als Arzneimittel ein. Der Hersteller klagte gegen die Einstufung und gewann: 2021 urteilte das Oberverwaltungsgericht Münster: Es sei nicht klar, ob eine vergleichbare Menge Melatonin nicht auch über verzehrte Lebensmittel aufgenommen werden könnte.7https://www.ovg.nrw.de/behoerde/presse/pressemitteilungen/01_archiv/2021/64_211029/index.php
Das BfArM kann gegen dieses Urteil keine Revision einlegen und muss nun selbst beweisen, dass sich nur wenig Melatonin in Lebensmitteln befindet.8https://www.bverwg.de/de/211122B3B1.22.0 Auch wenn die endgültige Entscheidung bei den Landesbehörden liegt: Für das BfArM seien Produkte mit mehr als 0,5 Milligramm Melatonin Arzneimittel, schreibt uns ein Sprecher.
Vom Star zum halben Sternchen
Die unsichere Rechtslage in Deutschland dürfte auch die kurios wirkenden Verzehrempfehlungen eingangs beschriebener Sternchen-Fruchtgummi erklären, von dem die deutschen Kunden pro Tag nur ein halbes verzehren sollen. Amazon vertreibt das Produkt mit 1 Milligramm Melatonin pro Fruchtgummi europaweit. In Deutschland jedoch könnte eine Dosis von mehr als 0,5 Milligramm Ärger mit den Behörden bringen.
Anderen Herstellern scheinen die Urteile egal zu sein. Auf Anfrage bemerkt das Bundesinstitut für RisikobewertungBundesinstitut für Risikobewertung Das BFR, das Bundesinstitut für Risikobewertung, ist eine Bundesbehörde die dem BMEL (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft) zugeordnet ist. Sie soll unabhängig von wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Interessen z.B. die Sicherheit von Lebensmitteln, Chemikalien, Bioziden, Pflanzenschutzmitteln, Textilien, Lebensmittelverpackungen, Kosmetika und Tabakerzeugnisse bewerten. Auch die Bewertung gentechnisch veränderter Organismen in Lebens- und Futtermitteln, Pflanzen und Tieren zählt hier dazu. Die wissenschaftsbasierte Risikobewertung geschieht als Grundlage für den gesundheitlichen Verbraucherschutz innerhalb und außerhalb von Deutschland. (BfRBfR Das BfR, das Bundesinstitut für Risikobewertung, ist eine Bundesbehörde die dem BMEL (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft) zugeordnet ist. Sie soll unabhängig von wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Interessen z.B. die Sicherheit von Lebensmitteln, Chemikalien, Bioziden, Pflanzenschutzmitteln, Textilien, Lebensmittelverpackungen, Kosmetika und Tabakerzeugnisse bewerten. Auch die Bewertung gentechnisch veränderter Organismen in Lebens- und Futtermitteln, Pflanzen und Tieren zählt hier dazu. Die wissenschaftsbasierte Risikobewertung geschieht als Grundlage für den gesundheitlichen Verbraucherschutz innerhalb und außerhalb von Deutschland.), dass die Nahrungsergänzungsmittel, die zurzeit neu im Handel sind, bis zu 3 Milligramm Melatonin enthalten. Das Produkt „Greendoc“ etwa, der Melatonin-Renner bei Rossmann und dm, enthält bis zu 1,8 Milligramm pro Dosis.
Nach etwas mehr als 20 Jahren fallen die Erfahrungen mit Melatonin ernüchternd aus: Der gefeierte Star sollte die Schlafprobleme der westlichen Welt mühelos behandeln und Arzneimittelherstellern guten Umsatz generieren. Nichts davon wurde wahr. Als Arzneimittel kann Melatonin nur wenigen Patient:innen helfen. Es wurde kein Blockbuster-Arzneimittel, sondern ein Nahrungsergänzungsmittel in Sternchen-Form, das Kund:innen in Deutschland der Rechtssicherheit wegen lieber halbieren sollten. Während Expert:innen vor Überdosierungen warnen, scheint der einst helle Stern Melatonin unterzugehen.
Der Schlafexperte Markus Specht hält selbst den Begriff „Schlafhormon“ für irreführend: „Melatonin sagt dem Körper nur, dass es draußen dunkel ist. Mehr macht es nicht.“
Redaktion: Sigrid März, Martin Rücker, Nicole Hagen
- 1https://www.amazon.de/gp/customer-reviews/R1FTYVG76XOW88/ref=cm_cr_arp_d_rvw_ttl?ie=UTF8&ASIN=B0BNQ18NZZ
- 2https://www.nature.com/articles/s41398-021-01464-x
- 3https://www.aerzteblatt.de/archiv/12297/Traum-und-Realitaet-in-der-Melatoninforschung7
- 4https://medtech.pharmaintelligence.informa.com/SC023764/Lundbeck-launches-Circadin-in-central-Europe
- 5https://www.bvl.bund.de/DE/Arbeitsbereiche/01_Lebensmittel/03_Verbraucher/04_NEM/01_NEM_Arzneimittel/NEM_Arzneimittel_node.html
- 6https://jcsm.aasm.org/doi/10.5664/jcsm.6462#d1e393
- 7https://www.ovg.nrw.de/behoerde/presse/pressemitteilungen/01_archiv/2021/64_211029/index.php
- 8https://www.bverwg.de/de/211122B3B1.22.0