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Hype um hochdosierte Nahrungsergänzungsmittel Zu viel des Guten

Blister mit Tabletten
Nahrungsergänzungsmittel sind oft überflüssig und viel zu hoch dosiert. © Michal Jarmoluk / Pixabay

NahrungsergänzungsmittelNahrungsergänzungsmittel Nahrungsergänzungsmittel werden den Lebensmitteln zugeordnet und sind abgegrenzt von Medikamenten zu betrachten. So dürfen sie, wie der Name schon sagt, die normale Ernährung ergänzen, sie jedoch nicht ersetzen und zudem keine arzneiliche Wirkung zeigen. Sie werden als Kapseln, Tabletten, Tropfen oder Ähnliches angeboten und enthalten oft Vitamine, Mineralstoffe oder sonstige Nährstoffe, die eine Wirkung erzielen sollen. Sie dürfen jedoch nicht wie ein Arzneimittel beworben werden. Die Hersteller dürfen keine spezifische Wirkung wie die Linderung oder Vorbeugung einer Krankheit anpreisen oder für ein definiertes Anwendungsgebiet werben. sollen Knochen und Immunsystem stärken, die Haut verschönern und Haare zum Glänzen bringen. Unsere Recherche zeigt jedoch: Die meisten Vitamin- und Mineralstoffpräparate sind höher dosiert, als die deutsche Risikobehörde empfiehlt. Die Gefahren werden unterschätzt. 

Kurz hintereinander waren dem Darmstädter Nephrologen Michael Zieschang gleich vier Patient:innen in seiner Praxis besonders aufgefallen. Sie kamen mit schweren Nierenschäden oder akutem Nierenversagen. Entgegen seinem Verdacht fand der Arzt jedoch weder einen Tumor noch andere organische Ursachen. 

Ungewöhnlich genug, weshalb Zieschang der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Anfang 2021 Bericht erstattete.1https://www.akdae.de/fileadmin/user_upload/akdae/Arzneimitteltherapie/AVP/vorab/20210208-Vitamin-D.pdf Denn in allen vier Fällen führte er die Beschwerden darauf zurück, dass die Patient:innen zu viel Vitamin D zu sich genommen hatten. Mal durch gezielt hohe Dosen, mal durch die Kombination mehrerer Nahrungsergänzungsmittel (NEM). „Ein mehrfacher Overkill“, sagt Zieschang. Zu wilden Kombinationen mehrerer Nahrungsergänzungsmittel berichtete MedWatch kürzlich erst.

40.000 Internationale Einheiten pro Tag

Berichte wie diese mehren sich. Vor wenigen Monaten landete ein sieben Monate alter Säugling auf der Intensivstation.2https://www.akdae.de/arzneimittelsicherheit/bekanntgaben/newsdetail/vitamin-d3-ueberdosierung-bei-einem-saeugling-aus-der-uaw-datenbank Wohl im Glauben, ihrem Kind etwas Gutes zu tun, hatten seine Eltern ihm über Monate hinweg hochkonzentriertes Vitamin D verabreicht: 40.000 Internationale Einheiten pro Tag, eine krasse Überdosierung. Die Kalziumwerte in Blut und Nieren schossen in die Höhe, das Baby war vergiftet. Vergiftet mit Vitamin D. 

Wie gesund Vitamine und Mineralstoffe sind, lernt jedes Kind spätestens in der Schule. Zu wenig von ihnen schadet der Gesundheit. Doch es gibt auch ein Zuviel des Guten. 

Ein Mangel an Vitamin D kann bei Erwachsenen Osteoporose befördern und bei Kleinkindern die Knochensubstanz erheblich schwächen. Eine Überdosis, das ist weniger bekannt, geht vor allem auf die Nieren. Michael Zieschang ist davon überzeugt, dass 2.000 oder 3.000 Einheiten am Tag, gängige Dosierungen in Vitamintropfen oder -pillen, für gesunde Menschen „völlig ungefährlich“ sind. Nicht aber für empfindliche Menschen, die vielleicht eine Vorerkrankung belastet. 

Um solche Folgen zu vermeiden, hat das staatliche Bundesinstitut für RisikobewertungBundesinstitut für Risikobewertung Das BFR, das Bundesinstitut für Risikobewertung, ist eine Bundesbehörde die dem BMEL (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft) zugeordnet ist. Sie soll unabhängig von wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Interessen z.B. die Sicherheit von Lebensmitteln, Chemikalien, Bioziden, Pflanzenschutzmitteln, Textilien, Lebensmittelverpackungen, Kosmetika und Tabakerzeugnisse bewerten. Auch die Bewertung gentechnisch veränderter Organismen in Lebens- und Futtermitteln, Pflanzen und Tieren zählt hier dazu. Die wissenschaftsbasierte Risikobewertung geschieht als Grundlage für den gesundheitlichen Verbraucherschutz innerhalb und außerhalb von Deutschland. (BfRBfR Das BfR, das Bundesinstitut für Risikobewertung, ist eine Bundesbehörde die dem BMEL (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft) zugeordnet ist. Sie soll unabhängig von wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Interessen z.B. die Sicherheit von Lebensmitteln, Chemikalien, Bioziden, Pflanzenschutzmitteln, Textilien, Lebensmittelverpackungen, Kosmetika und Tabakerzeugnisse bewerten. Auch die Bewertung gentechnisch veränderter Organismen in Lebens- und Futtermitteln, Pflanzen und Tieren zählt hier dazu. Die wissenschaftsbasierte Risikobewertung geschieht als Grundlage für den gesundheitlichen Verbraucherschutz innerhalb und außerhalb von Deutschland.) Höchstmengen für die Nährstoffe in NEM bestimmt. Werden sie eingehalten, besteht nach Einschätzung des BfR für gesunde Verbraucher keine Gefahr. Oberhalb der Werte kann es aus Sicht des Instituts kritisch werden, vor allem für Risikogruppen. 

Ein Marktcheck, eigens für diese Recherche angefertigt, zeigt: Hohe Nährstoffdosen sind nicht nur ein Problem zweifelhafter Internetshops. Dort gibt es zwar noch weitaus stärker konzentrierte Produkte, doch auch die meisten NEM aus den Regalen der Drogeriemärkte überschreiten die BfR-Empfehlungen. Denn die sind nicht mehr als unverbindliche Ratschläge.

6 von 10 Produkten überschreiten Höchstmengenempfehlungen

Für die Untersuchung wurden im September 2022 die NEM aus den Onlineshops von dm und Rossmann ausgewertet: 265 Produkte bei dm, 190 bei Rossmann. Nach Abzug der Überschneidungen sind das 384 unterschiedliche Produkte. 239 von ihnen (62 Prozent) lagen bei mindestens einem Nährstoff über den BfR-Empfehlungen, bei Rossmann noch mehr (70 Prozent) als bei dm (60 Prozent). Besonders viele Präparate enthalten, gemessen an den BfR-Werten, zu viel Folsäure, zu viel Magnesium, zu viel Vitamin B6. 

Fehlerhafte Angaben in den Onlineshops

Bei der Untersuchung der von dm und Rossmann angebotenen Nahrungsergänzungsmittel zeigte sich auch: Die Produktangaben in den Onlineshops der Drogeriemarktketten sind nicht immer zuverlässig. Bei beiden Betreibern fehlten zu manchen Produkten ein Teil der Informationen. Zudem haben sich bei den vorhandenen Nährwertangaben zahlreiche Fehler eingeschlichen. Zum Teil bezogen sich die dargestellten Vitamin- und Mineralstoffmengen auf veraltete Versionen eines Nahrungsergänzungsmittels, die so gar nicht mehr im Handel sind. In anderen Fällen wichen sie offenbar irrtümlich von den Angaben der Hersteller auf den Originaletiketten ab. 

Die Fehler waren vielfältig: In einzelnen Fällen waren bei den Maßeinheiten „Mikrogramm“ und „Milligramm“ verwechselt – immerhin ein Unterschied um den Faktor 1.000. In anderen bezogen sich die Angaben für eine Tagesdosis nicht auf die vom Hersteller empfohlene Tagesration, sondern auf eine andere Einnahmemenge. Bei anderen Produkten waren Mengenangaben versehentlich anderen Nährstoffen zugeordnet oder es fehlten einzelne Nährstoffe in der Liste, sodass Kaufinteressent:innen kein vollständiges Bild von dem Produkt erhalten. 

Fazit

Auf die Angaben in den Onlineshops der Drogeriemärkte ist nicht uneingeschränkt Verlass. Wer sich genau über die Nährstoffzusammensetzung informieren möchte, sollte die Informationen auf dem Herstelleretikett zurate ziehen.

Wenig Akzeptanz

Die Empfehlungen der Risikobehörde stoßen im Markt auf wenig Akzeptanz. Rossmann orientiert sich „an den gesetzlichen Vorgaben“, und dm beziehe die BfR-Werte in die Überlegungen ein, wie Geschäftsführerin Kerstin Erbe sagt – das jedoch „im Zusammenhang mit dem Gesamtkonzept“. 

Der Herstellerverband NEM e.V. sieht die BfR-Empfehlungen sogar „nicht im Einklang mit dem Stand der Wissenschaft“. Mit den höheren Dosierungen würden die Wünsche von Verbrauchern und Therapeuten erfüllt, argumentiert Verbandspräsident Manfred Scheffler: „Wenn Konsumenten gängige Nahrungsergänzungsmittel aus dem stationären Handel in Deutschland über längere Zeit mit den empfohlenen Tagesmengen anwenden, ist unserer Ansicht nach eine Gesundheitsschädlichkeit nicht ersichtlich.“ 

Anstelle der BfR-Werte nennt Scheffler die meist höheren, von der Europäischen Lebensmittelbehörde definierten Upper Intake Levels (UL). Halte ein NEM diese Grenze ein, könne es „nicht als gesundheitsschädlich gelten“. 

Mit den „UL“ allerdings beschreibt die EU-Behörde keine Limits für Vitamine und Mineralstoffe in einem einzelnen Produkt. Sondern die höchste Menge, die ein Verbraucher längerfristig ohne gesundheitliche Schäden täglich aufnehmen kann – und zwar aus allen Nahrungsquellen zusammen. Das BfR hingegen bezieht seine Empfehlungen auf einzelne Produkte. Es berücksichtigt, dass Menschen auch andere Lebensmittel mit denselben Nährstoffen zu sich nehmen. Deshalb sind die Werte niedriger. 

Für die meisten Hersteller zu niedrig. Teilweise weichen sie drastisch davon ab: Es gibt Produkte, die doppelt so viel Eisen, dreimal so viel Calcium, viermal so viel Vitamin C oder 20 Mal so viel Vitamin B12 enthalten wie vom BfR empfohlen. Im besten Fall scheidet der Körper überschüssige Mengen aus den eigens gekauften Präparaten einfach aus – teurer Urin, wie manche Experten sagen. Im schlechtesten Fall leidet die Gesundheit. 

Nahrungsergänzung nur im Ausnahmefall

Es besteht ein breiter wissenschaftlicher Konsens, dass NEM für gesunde Menschen bei ausgewogener Ernährung weitestgehend überflüssig sind. Es gibt Ausnahmen: Folsäure für Frauen mit Kinderwunsch und in der Schwangerschaft, Vitamin B12 für Personen, die sich vegan ernähren. Auch bei Vitamin D halten viele seriöse Wissenschaftler:innen eine Zufuhr für sinnvoll. 

Das sogenannte Sonnenvitamin ist ein Sonderfall: Der Körper kann es selbst bilden, braucht dazu aber Sonnenlicht – wovon er hierzulande mitunter nicht genug bekommt. Lebensmittel enthalten zudem nur wenig Vitamin D, weshalb ein Mangel kein Randphänomen ist. Was das bedeutet, ist nicht restlos geklärt: Ein ausreichender Vitamin-D-Spiegel schützt vor Atemwegserkrankungen,3https://www.dge.de/fileadmin/public/doc/pm/2021/jsem/JSem-14-EB-VitD-Linseisen.pdf ältere Menschen auch vor Knochenbrüchen nach Stürzen. Wenn es dubiose Ernährungsberater und Social-Media-Influencer:innen jedoch als Wunderwaffe gegen nahezu jede chronische Krankheit preisen, können sie sich nicht auf Evidenz berufen.4https://www.dge.de/uploads/media/DGE-Pressemeldung-aktuell-01-2012-Vitamin-D.pdf 

„Der Vitamin-D-Hype geht mir seit Jahren auf den Geist. Keine Studie zeigt, dass irgendeine Prognose durch die Substitution besser wird“, sagt der Nephrologe Zieschang. Fragt er Patient:innen, warum sie Vitamin D einnehmen, wüssten viele keinen genauen Grund. Sie hätten den Tipp aus dem Internet, von Freunden, aus der Werbung. 

Die Dosen sind viel zu hoch

Eine Tagesdosis von höchstens 20 Mikrogramm Vitamin D, 800 Internationale Einheiten, sollte ein NEM enthalten, meint das BfR. Eine höhere Zufuhr habe auch „keine sinnhafte“ Wirkung für Gesunde, geben auch die Bundesbehörden für VerbraucherschutzVerbraucherschutz Verbraucherschutz ist deutschland- und europaweit ein breit gefächertes Gebiet. So gibt es ein Amt für Verbraucherschutz, ein Bundesinstitut für Risikobewertung, die EFSA – die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit – und eine Health-Claims-Verordnung. In Deutschland existieren 16 Verbraucherzentralen und weitere verbraucherpolitische Organisationen, die in einem gemeinsamen Bundesverband gebündelt sind. Verbraucherschutz beinhält Rechtsvorschriften und Verbraucherrechte die z.B. Bereiche wie Lebensmittelsicherheit, Kaufverträge und Verträge mit Banken und Geldinstituten berücksichtigen. und ArzneimittelArzneimittel Arzneimittel sind Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die angewandt werden, um Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder Beschwerden zu heilen, zu lindern oder zu verhüten. Es kann sich hierbei ebenfalls um Mittel handeln, die dafür sorgen, dass Krankheiten oder Beschwerden gar nicht erst auftreten. Die Definition beinhaltet ebenso Substanzen, die der Diagnose einer Krankheit nutzen oder seelische Zustände beeinflussen. Die Mittel können dabei im Körper oder auch am Körper wirken. Das gilt sowohl für die Anwendung beim Menschen als auch beim Tier. Die gesetzliche Definition von Arzneimitteln ist im § 2 Arzneimittelgesetz (AMG) enthalten. an.5https://www.bvl.bund.de/SharedDocs/Downloads/01_Lebensmittel/expertenkommission/Zweite_Stellungnahme_VitaminD_Revision1.1.pdf;jsessionid=C939CE230A975B15E48B07053D201416.1_cid372?__blob=publicationFile&v=3 Die Realität ist eine andere: 134 NEM aus den Shops von dm und Rossmann enthalten Vitamin D – jedes vierte mehr als 20 Mikrogramm, viele deutlich mehr. Zwei erreichen sogar den europäischen UL-Wert von 100 Mikrogramm pro Tag. Viel zu viel, meint Diana Rubin: „Mit einer solchen Dosis können Sie bei kritischen Vitaminspiegeln im Blut landen, das ist nicht gut.“ 

Am Berliner Vivantes-Klinikum Nord, wo Rubin das Zentrum für Ernährungsmedizin leitet, sieht die Ärztin inzwischen fast jede Woche einen Menschen, bei dem sie einen bedenklich hohen Vitamin-D-Gehalt im Blut feststellt. Sie kommen mit Adipositas, Reizdarm oder Tumoren zur Untersuchung. Rubin hat sich angewöhnt, sie genau nach ihrer Vitamin-D-Aufnahme zu fragen. Bei Patient:innen mit Nierensteinen und einer Hyperkalzämie vermutet sie immer wieder einen Zusammenhang. 

Einige Produkte des Marktchecks

Hier kann sich durch eine kleine Produktauswahl des Marktchecks geklickt werden.

Zu viel Vitamin D erhöht den Kalziumspiegel im Blut, Ärzte sprechen von Hyperkalzämie. Die zeigt sich erst einmal gar nicht, dann mit Müdigkeit, Muskelschwäche und Übelkeit. Irgendwann können Herzrhythmusstörungen dazukommen, die Gefäße verkalken. Mit Sorge sieht Rubin, dass Forschungsergebnissen zufolge6https://academic.oup.com/jcem/article/97/8/2644/2823270?login=false nicht nur zu niedrige, sondern auch zu hohe Vitamin-D-Spiegel im Blut mit einer höheren Sterblichkeit verbunden sind. Noch ist die Studienlage dazu widersprüchlich, doch mit zu viel Vitamin D scheint niemand sich einen Gefallen zu tun. 

Möglichst „hochdosiert“

Der Markt für Nahrungsergänzungsmittel aber funktioniert nach anderen Prinzipien. Wer sich die Regale im Handel ansieht, kommt an einem Wort nicht vorbei: „Hochdosiert“. 

Es ist ein gesetzlich bestimmter Begriff, der an Mindestdosen geknüpft ist. Doch viele Firmen stellen ihn werblich aus wie ein Qualitätssiegel. Es habe „den Anschein“, kritisiert das BfR, es solle „das Klischee ‚Viel hilft viel‘ oder ‚Je höher, desto besser‘ bedient werden“. Ginge es nach den Experten des Bundesinstituts, gehören derart hochdosierte Produkte in die Apotheke, erhältlich nur auf ärztliches Rezept. dm-Geschäftsführerin Erbe dagegen hält die Aufklärung durch Verpackungshinweise für ausreichend. Die Produkte seien für Kunden konzipiert, bei denen ein „individuell höherer Bedarf an Vitaminen und Mineralstoffen besteht“. 

Kritische Stimmen verweisen hingegen darauf, dass die Menschen NEM auf Verdacht einnehmen, wild miteinander kombinieren, angegebene Tagesmengen überschreiten und Wechselwirkungen übersehen, wie zwischen Magnesium und Zink.7https://www.klartext-nahrungsergaenzung.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/wechselwirkungen-nebenwirkungen-gegenanzeigen-von-nahrungsergaenzungen-50991 Anders als bei Arzneimitteln dürfen die NEM-Hersteller solche Angaben verschweigen. Überhaupt sind sie sehr viel freier: Während Medikamente mit einer Tagesdosis von mehr als 25 Mikrogramm Vitamin D verschreibungspflichtig sind,8https://www.gesetze-im-internet.de/amvv/anlage_1.html dürfen NEM auch höher dosiert frei im Supermarkt verkauft werden. NEM brauchen weder eine Zulassung noch einen Nachweis für die Wirkung. 

Ohne Nutzen für die Prävention?

Entsprechend skeptisch beäugen auch Wissenschaftler:innen den Markt. NEM seien „ohne Nutzen für die Primärprävention, also die Gesunderhaltung und Vorbeugung von Krankheiten“, warnten jüngst zwei medizinische Fachgesellschaften aus den Bereichen Gastroenterologie und Chirurgie.9https://medwatch.de/wp-admin/post.php?post=8241&action=edit Gesünder durch Vitamin-C-Präparate,10https://www.klartext-nahrungsergaenzung.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/vitamin-c-erstaunlich-gesund-1915 seltener erkältet durch mehr Zink,11https://www.klartext-nahrungsergaenzung.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/mehr-zink-bei-erkaeltungen-13390 weniger Muskelprobleme dank Magnesiumpillen?12https://www.klartext-nahrungsergaenzung.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/magnesium-beim-sport-krampf-lass-nach-13354 Dafür fehlen die Belege. 

Auch die Folgen hoher Aufnahmemengen sind häufig noch unklar. Die Forschung steht erst am Anfang, meint der Ernährungsmediziner Hans Konrad Biesalski, emeritierter Professor der Universität Hohenheim: „Wenn wir 10 Prozent über Vitamine wissen, ist das viel.“ 

Einige Risiken immerhin sind bekannt. Zu viel Magnesium kann Magen-Darm-Probleme verursachen,13https://www.klartext-nahrungsergaenzung.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/magnesium-was-ist-zu-beachten-8003 sehr hohe Dosen Vitamin B6 und B12 stehen in Verdacht, das Risiko für Lungenkrebs zu erhöhen.14https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28829668/ Calciumtabletten in gängigen Dosierungen von mehr als 500 Milligramm pro Tag könnten „Nierensteine und Gefäßverkalkungen nach sich ziehen“, warnt die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie.15https://www.endokrinologie.net/pressemitteilung/gesunde-und-starke-knochen.php Die Liste ließe sich fortsetzen. 

In der Werbung spielen die Risiken keine Rolle. Wenn Rossmann ein Calcium-Präparat16https://www.rossmann.de/de/gesundheit-altapharma-calcium-1000–vitamin-d3/p/4305615619361 – Tagesdosis: 1000 Milligramm – verkauft, dann ist vom „lebensnotwendigen Mineralstoff“ die Rede, nicht aber von möglichen Gefahren. Auf Warnhinweise, zu denen das BfR für einige Nährstoffe rät, verzichten viele Hersteller auf ihren Etiketten.

Für sie haben sich NEM zu einem boomenden Milliardenmarkt entwickelt.17https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2021/PD21_23_p002.html Mehr als 240 Millionen Packungen verkaufen sie jedes Jahr in Deutschland, vor allem in Drogeriemärkten. Der Umsatz stieg zuletzt nach Angaben des Lebensmittelverbandes auf rund 1,8 Milliarden Euro.18https://www.lebensmittelverband.de/de/presse/pressemitteilungen/pm-20221018-nahrungsergaenzungsmittel-marktzahlen-2022 Besonders beliebt: Vitamin-C- und D-Präparate sowie Multivitaminprodukte und Magnesium. Einer Umfrage zufolge greifen bereits drei von vier Erwachsenen zu.19https://de.statista.com/infografik/24797/umfrage-zum-konsum-von-nahrungsergaenzungsmitteln-in-deutschland/ 

Biotin-Hype: „Die Frau mit einem Pferd verwechselt“ 

Es ist ein Markt, der absurde Blüten treibt. Bestes Beispiel: Biotin, angepriesen als Wunder-Vitamin für glänzendes Haar und schöne Nägel. Mangels sicherer Daten konnte das BfR für das Vitamin keine Höchstmengenempfehlung aussprechen. Entsprechend groß ist die Bandbreite bei der Dosierung, sie reicht von 6 bis zu 5.000 Mikrogramm in den untersuchten NEM. 

Woher der Hype kommt? Vom Pferd. 

In der Tiermedizin ist Biotin nämlich ein erprobtes Mittel. „Damit glänzen Haar und Hufe“, wirbt ein Anbieter.20https://www.equidocs.de/blog/biotin-pferde/ Menschen allerdings decken ihren Bedarf im Normalfall leicht über das Essen: Es ist fast schwieriger, ein Nahrungsmittel ohne Biotin zu finden als welche mit.21https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/sorgt-biotin-fuer-gesunde-haut-glaenzende-haare-und-feste-naegel-13635 Zwar sind keine Gefahren durch eine hohe Aufnahme bekannt, aber eben auch kein Beleg für einen Nutzen bei Gesunden.22https://medizin-transparent.at/biotin-haare/#:~:text=Der%20K%C3%B6rper%20ben%C3%B6tigt%20es%20auch,anregen%20und%20Haarausfall%20entgegenwirken%20k%C3%B6nnen, 23https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5582478/ „Hier wird die Frau, die sich Sorgen um Haut und Haare macht, mit einem Pferd verwechselt“, sagt Vitaminforscher Biesalski. 

Debatte um Gesetzliche Höchstwerte

Eigentlich hätte der Markt schon längst strenger reguliert sein sollen – mit gesetzlichen Grenzwerten für den Nährstoffgehalt: Bereits 2002 trat eine EU-Richtlinie in Kraft und verpflichtete die Europäische Kommission, Höchstmengen festzusetzen.24https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32002L0046&from=SK 

Passiert ist: nichts. 

Den NEM e.V. dürfte es freuen, er hält verbindliche Höchstwerte „für unangemessen“. Zu unterschiedlich seien die Nährstoffbedarfe der Verbraucher, da lasse sich eine „allgemeingültige Regel“ für die richtige Dosis „nicht sinnvoll begründen“. Der Lebensmittelverband hingegen, der die größeren NEM-Hersteller vertritt, würde EU-rechtliche Grenzwerte begrüßen, wenn auch weniger strikte als die BfR-Werte, die eine „Kumulation von ‚worst-case-Annahmen‘“ darstellten.   

Doch bisher war es, wie es manchmal in der EU ist: Erst konnten sich die Mitgliedstaaten, die in die Beratungen einbezogen sind, nicht auf einen Vorschlag einigen. Dann, zwischen 2009 und 2019, ruhten die Arbeiten „vollständig“, wie eine Sprecherin von Bundesernährungsminister Cem Özdemir angibt. Das Ministerium, das EU-weite Höchstgrenzen für Vitamine und Mineralstoffe für „dringend notwendig“ hält, habe die EU-Kommission bereits unter Özdemirs Vorgängern „mehrfach aufgefordert“, die Beratungen wieder aufzunehmen. 

Ende 2020 war es soweit, doch es wird noch dauern. „Im Laufe des Jahres 2024“, heißt es bei der EU-Kommission, soll es Höchstwerte geben, dann 22 Jahre nach Inkrafttreten der Richtlinie. 

Warum gibt es sie nicht längst? Einige „Stakeholder“, verraten EU-Offizielle, hätten „die Sorge geäußert, dass einige hochdosierte Vitamin- und Mineralstoffpräparate neu formuliert werden müssten“.


Redaktion: Nicola Kuhrt, Sigrid März, Nicole Hagen

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    https://www.akdae.de/fileadmin/user_upload/akdae/Arzneimitteltherapie/AVP/vorab/20210208-Vitamin-D.pdf
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    https://www.akdae.de/arzneimittelsicherheit/bekanntgaben/newsdetail/vitamin-d3-ueberdosierung-bei-einem-saeugling-aus-der-uaw-datenbank
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    https://www.dge.de/fileadmin/public/doc/pm/2021/jsem/JSem-14-EB-VitD-Linseisen.pdf
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    https://www.dge.de/uploads/media/DGE-Pressemeldung-aktuell-01-2012-Vitamin-D.pdf
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    https://www.bvl.bund.de/SharedDocs/Downloads/01_Lebensmittel/expertenkommission/Zweite_Stellungnahme_VitaminD_Revision1.1.pdf;jsessionid=C939CE230A975B15E48B07053D201416.1_cid372?__blob=publicationFile&v=3
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    https://academic.oup.com/jcem/article/97/8/2644/2823270?login=false
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    https://www.klartext-nahrungsergaenzung.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/wechselwirkungen-nebenwirkungen-gegenanzeigen-von-nahrungsergaenzungen-50991
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    https://www.gesetze-im-internet.de/amvv/anlage_1.html
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    https://medwatch.de/wp-admin/post.php?post=8241&action=edit
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    https://www.klartext-nahrungsergaenzung.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/vitamin-c-erstaunlich-gesund-1915
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    https://www.klartext-nahrungsergaenzung.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/mehr-zink-bei-erkaeltungen-13390
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    https://www.klartext-nahrungsergaenzung.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/magnesium-beim-sport-krampf-lass-nach-13354
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    https://www.klartext-nahrungsergaenzung.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/magnesium-was-ist-zu-beachten-8003
  • 14
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    https://www.endokrinologie.net/pressemitteilung/gesunde-und-starke-knochen.php
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    https://www.rossmann.de/de/gesundheit-altapharma-calcium-1000–vitamin-d3/p/4305615619361
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    https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2021/PD21_23_p002.html
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    https://www.lebensmittelverband.de/de/presse/pressemitteilungen/pm-20221018-nahrungsergaenzungsmittel-marktzahlen-2022
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    https://de.statista.com/infografik/24797/umfrage-zum-konsum-von-nahrungsergaenzungsmitteln-in-deutschland/
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    https://www.equidocs.de/blog/biotin-pferde/
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    https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/sorgt-biotin-fuer-gesunde-haut-glaenzende-haare-und-feste-naegel-13635
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    https://medizin-transparent.at/biotin-haare/#:~:text=Der%20K%C3%B6rper%20ben%C3%B6tigt%20es%20auch,anregen%20und%20Haarausfall%20entgegenwirken%20k%C3%B6nnen
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    https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5582478/
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    https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32002L0046&from=SK