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Jens Spahn Per Boulevard zur Masern-Impfpflicht

Text: "Die Impfpflicht kommt." Graphik einer Spritze aus deren Nadel ein grün-gelber Tropfen tropft. Der Inhalt der Spritze ähnelt einem Ladefortschrittsbalken, ebenfalls in gelb-grün. Darunter das Wort "Loading"
© Bundesgesundheitsministerium / StockVectors Shutterstock

Zuallerst wussten es die Leser der „Bild am Sonntag“. Unter der Überschrift „Die ImpfpflichtImpfpflicht Eine Impfpflicht ist die rechtliche Verpflichtung, sich mit einem Impfstoff gegen eine Virus-Erkrankung impfen zu lassen. Im Rahmen einer Pandemiebekämpfung kann es zu solch einer gesetzlichen Anordnung kommen; medizinisch ist jedoch immer die freiwillige Impfung einer breiten Bevölkerung anzustreben. Seit 2020 besteht in Deutschland eine gesetzliche Impflicht gegen Masern für Kinder und Betreuungspersonen in Kindertagesstätten und Schulen. Von 1874 bis 1975/1976 gab es in Deutschland – unter Otto von Bismarck – eine Impfpflicht gegen Pocken; die bisher einzige allgemeine Impflicht. 1959 wurde vom Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass solch eine Impfpflicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, sofern diese zur Abwehr schwerer Erkrankungen dient. Nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) kann grundsätzlich eine Impfpflicht für eine bestimmbare Personengruppe festlegt werden. Diese Verpflichtung muss verhältnismäßig sein. Das ist der Fall, wenn kein anderes milderes Mittel mehr zur Verfügung steht. kommt“ erfuhren Besucher der Website des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) am vergangenen Wochenende: „Bundesgesundheitsminister Jens SpahnSpahn Spahn, Jens; Bankkaufmann und Politologe, war 2018 bis 2021 Bundesminister für Gesundheit. Seit 2002 ist er Mitglied des Bundestages. führt Impfpflicht für Kita- und Schulkinder ein.“ Details hatte der umtriebige Minister da bereits Deutschlands größtem Boulevardblatt in einem Interview erklärt.

Text: "Die Impfpflicht kommt
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn führt Impflicht für Kita- und Schulkinder ein
Mit einen neuem Gesetzentwurf will Spahn Kita- und Schulkinder vor Masern schützen. „Deswegen sollen alle, die eine Kita oder Schule besuchen, gegen Masern geimpft sein. Wer dort neu aufgenommen wird, muss das nachweisen", sagte Spahn der BILD am Sonntag. Kinder, die bereits in die Kita oder in die Schule gehen, müssen den Nachweis bis zum 31. Juli 2020 nachreichen. Der Nachweis erfolgt über den Impfpass oder eine Impfbescheinigung. Das gilt auch für die Erzieher, Lehrer und das gesamte Personal. In medizinischen Einrichtungen, wie z.B. in Krankenhäusern oder Arztpraxen, ist das bereits gelebte Praxis. Auch hier muss das Personal die Impfung nachweisen oder beweisen, die
Krankheit bereits durchlitten zu haben und damit immun zu sein. Das schützt die
Patienten.
Die Ankündigung des Ministeriums vom Sonntag.
© Screenshot www.bundesgesundheitsministerium.de

Der Ministeriums-Website waren zu diesem Zeitpunkt kaum mehr Informationen zu entnehmen. Der eigentliche Gesetzentwurf zur MasernMasern Masern sind eine meldepflichtige Erkrankung, die durch Masern-Viren (Morbilliviren) verursacht wird. Die Krankheit ist für alle Altersgruppen über Tröpfcheninfektion und Aerosole hoch ansteckend. Früher war sie hauptsächlich als Kinderkrankheit verbreitet, mittlerweile stecken sich vor allem ungeimpfte Jugendliche und Erwachsene an. Auf Grund eines erhöhten Risikos für Komplikationen sind Masern hier oft mit schwereren Komplikationen verbunden. Masernviren schwächen die körpereigene Abwehr über Monate, manchmal sogar Jahre. Es kann zu weiteren Infektionen wie Mittelohr-, Lungenentzündung oder Magen-Darm-Infekten kommen. Sehr selten führen Masern zu einer Hirnentzündung, die tödlich sein kann. Bei Schwangeren kann eine Infektion mit dem RNA-Virus ein Früh- oder Fehlgeburt nach sich ziehen.Seit 2020 besteht eine Masern-Nachweispflicht für den Besuch einer Kindertagesstätte, einer Schule oder einer anderen Gemeinschaftseinrichtung. Diese gilt für alle Kinder über einem Jahr sowie für dort Beschäftigte, die nach 1970 geboren wurden. Gegen Masernviren gibt es ausschließlich Medikamente, die die Beschwerden mildern, jedoch keine Behandlung an sich.Wer einmal eine Masernerkrankung durchgemacht hat, ist lebenslang immun. In Deutschland vorhandene Impfstoffe sind Kombi-Präparate, meist MMR (Masern-Mumps-Röteln) oder MMRV (MMR + Windpocken/Varizellen).Nach ein bis zwei Wochen Inkubationszeit, tauchen erste Symptome wie Fieber, Husten Schnupfen und Halsschmerzen, Kopfschmerzen und Flecken an der Wangeninnenseite auf. Das Fieber sinkt und es entwickelt sich ein Hautauschlag, welcher im Gesicht beginnt und sich anschließend auf den gesamten Körper ausbreitet. Die einzelnen Flecke werden größer und ‚fließen‘ ineinander. Das Fieber steigt wieder an. Bereits einige Tage vor dem typischen Hautauschlag kann man das Virus übertragen. Da der Ausschlag der Masern leicht mit dem von Röteln oder Scharlach verwechselt werden kann, erfolgt eine genaue Abklärung über einen Rachenabstrich, eine Urinprobe oder einen Bluttest.-Impfpflicht fand sich zudem erst einen Tag später auf der Homepage.

Was zunächst nach einem Akt der Tatkraft klingt – „…Spahn führt Impfpflicht ein…“ – lässt im zweiten Moment stutzen: Den Bundestag als eigentlichen Gesetzgeber scheint Spahn an diesem Sonntag eloquent hintenanzustellen. Auf Twitter lässt erster Spott nicht lange auf sich warten. Ob Spahn seinen Gesetzentwurf eigentlich dem Bundestag oder gleich der Bildzeitung vorgelegt habe, fragt ein Nutzer und orakelt weiter: „Der Gesetzgeber war ihm vielleicht zu langsam?“

Sollte man sich jetzt mit demokratischen Kleinlichkeiten aufhalten? Endlich macht ein Minister mal etwas, raunt es von den Zuschauerrängen des Gesundheitssystems. Derart motiviert kommuniziert das Ministerium das Thema dann auch auf seiner Facebook-Seite, dekoriert mit einer großen Spritze als Symbolbild.

„Die Impfpflicht kommt“ ist dort zu lesen, auch hier „führt Spahn die Impfpflicht ein“ – wer braucht schon eine Legislative? Nach weiterer Kritik im Netz antwortet dann der Pressesprecher Spahns. Der Mann, bis zu Spahns Amtseinführung Redakteur der „Bild“ in Berlin, erklärt, den missverständlichen Satz ändern zu lassen. Und so heißt es ein paar Stunden später nur noch Spahn „schlägt Impfpflicht vor“ – inzwischen wurde daraus „Impfpflicht soll Kinder vor Masern schützen“. Die bedrohliche Grafik einer Spritze bleibt.

Bei aller Kritik an der öffentlichkeitswirksamen Vorgehensweise Spahns: Wie sinnvoll ist das Gesetz überhaupt?

Neue Zahlen hat das Robert Koch-InstitutRobert Koch-Institut Das Robert-Koch-Institut (RKI) ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Seine Kernaufgaben sind die Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten, insbesondere von Infektionskrankheiten. Das Robert-Koch-Institut wirkt bei der Entwicklung von Normen und Standards mit. Es informiert und berät die Fachöffentlichkeit, sowie die breite Öffentlichkeit. (RKIRKI Das RKI – Robert-Koch-Institut – ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Seine Kernaufgaben sind die Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten, insbesondere von Infektionskrankheiten. Das RKI wirkt bei der Entwicklung von Normen und Standards mit. Es informiert und berät die Fachöffentlichkeit, sowie die breite Öffentlichkeit.), es betrachtet die Impflücken bei Masern weiterhin als zu groß. Zwar haben 97,1 Prozent der Schulanfänger die erste ImpfungImpfung Eine Impfung hilft, vor schwer verlaufenden Infektionskrankheiten zu schützen. Durch abgeschwächte Erreger, durch Bruchteile von Erregern oder seit Neuestem mit mRNA-Stücken von Erregern wird bei einer aktiven Schutzimpfung das Immunsystem über die gezeigten Antigene spezifisch aktiviert. Dem Körper wird durch eine Impfung vorgegaukelt mit einem echten Erreger infiziert zu sein. Dadurch wird die gesamte Immunsystem-Kaskade in Gang gesetzt, inklusive der Bildung spezifischer Gedächtniszellen. Ist der Organismus später dem tatsächlichen Erreger ausgesetzt, kann er schnell, effizient und spezifisch reagieren ohne schwere Komplikationen zu entwickeln. Eine generelle Impfpflicht gibt es in hierzulande nicht. Die Ausnahme bildet die Masernimpfung: Seit 2020 muss bei Eintritt in eine Kindertagesstätte oder Schule ein Masern-Impfnachweis erbracht werden. Die STIKO gibt für Deutschland Impfempfehlungen heraus, an denen sich orientiert werden kann. bekommen. Aber bei der entscheidenden zweiten Masernimpfung gäbe es große regionale Unterschiede, sodass auf Bundesebene die gewünschte Impfquote von 95 Prozent noch immer nicht erreicht wird. Nach den neuen Daten des RKI sind gut 93 Prozent der Schulanfänger 2017 zweimal gegen Masern geimpft, also rund zwei Prozent zu wenig.

Was neben der Impfung gegen Masern Sorgen macht: Die Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten oder auch gegen Kinderlähmung haben bei den Schulanfängern bereits im dritten Jahr in Folge abgenommen, berichtet das RKI und schließt seine Analyse mit der Forderung, dass gemeinsame Anstrengungen der am Impfsystem beteiligten Akteure notwendig seien, um hohe Impfquoten zu erreichen und zu halten.

Die wirklichen Probleme liegen laut Experten anderswo

Derartige Forderungen sind nicht neu, längst als zögerlich kritisiert – die bisherigen Bemühungen tatsächlich nicht von Erfolg gekrönt. Es gibt viele Akteure im GesundheitssystemGesundheitssystem Das deutsche Gesundheitssystem ist ein duales Krankenversicherungssystem bestehend aus der GKV (Gesetzlichen Krankenversicherung) und der PKV (private Krankenversicherungen). Seit der Gesundheitsreform 2007 muss jeder, der in Deutschland seinen Wohnsitz hat, eine Krankenversicherung haben. Wichtig ist zudem das Prinzip der Selbstverwaltung und der Sachleistung. D.h. Krankenkassen erfüllen die ihnen gesetzlich übertragenen Aufgaben in eigener Verantwortung. Es existiert eine gemeinsame Selbstverwaltung der Leistungserbringer und Kostenträger. Wichtigstes Organ hierbei auf Bundesebene ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA)., die dieser Stillstand nervt. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gibt an, das ändern zu wollen. „Trotz aller Aufklärungskampagnen sind die Impfquoten in den vergangenen Jahren nicht entscheidend gestiegen. Deshalb muss die Masern-Impfung in Kindergärten und Schule verpflichtend werden“, lässt sich der Minister in der zur Veröffentlichung der aktuellen Impfzahlen herausgegebenen Pressemitteilung zitieren. „Denn wer sich impft, schützt nicht nur sich selbst, sondern auch die Gemeinschaft. Und weiter: „95 Prozent der Bevölkerung müssen gegen Masern geimpft sein, damit diese hochansteckende Viruserkrankung ausgerottet werden kann. Das ist unser Ziel.“

Wir wollen die Masern ausrotten. Dazu brauchen wir eine Impfpflicht in Kitas und Schulen.

Gesundheitsminister Jens Spahn bei Instagram

Interessanterweise offenbart bereits das in der gleichen Pressemitteilung direkt nachfolgende Statement des RKI-Präsidenten Lothar H. WielerLothar H. Wieler Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Lothar H. Wieler ist seit März 2015 Präsident des Robert Koch-Instituts. Er ist Fachtierarzt für Mikrobiologie und unter anderem Mitglied der One Health Global Leaders Group on Antimicrobial Resistance der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und der Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE). Seit Mai 2016 ist Lothar Wieler zudem Gastmitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Leibniz-Instituts für Experimentelle Virologie (LIV) in Hamburg. (Stand August 2022) eine deutlich andere Beurteilung der Situation. Der als kühner Befreiungsschlag daherkommende Plan Spahns kommt plötzlich eher einer unüberlegten Hauruck-Aktion gleich.

Während der Gesundheitsminister jetzt eine Impfpflicht für Kinder einführt, sehen Experten eine ernste Problemlage in Sachen Masern an anderer Stelle: „Fast die Hälfte der Erkrankten sind junge Erwachsene, das weist auf die großen Impflücken in diesen Altersgruppen hin“, erklärt RKI-Präsident Wieler. Die Ständige Impfkommission empfiehlt daher für die nach 1970 Geborenen die Impfung nachzuholen, wenn im Impfpass keine oder nur eine Masernimpfung aus der Kindheit vermerkt ist oder der Impfstatus unklar ist.

Wie besseres Impf-Management gehen kann, verrät Wieler ebenfalls. „Fachübergreifendes ImpfenImpfen Eine Impfung hilft, vor schwer verlaufenden Infektionskrankheiten zu schützen. Durch abgeschwächte Erreger, durch Bruchteile von Erregern oder seit Neuestem mit mRNA-Stücken von Erregern wird bei einer aktiven Schutzimpfung das Immunsystem über die gezeigten Antigene spezifisch aktiviert. Dem Körper wird durch eine Impfung vorgegaukelt mit einem echten Erreger infiziert zu sein. Dadurch wird die gesamte Immunsystem-Kaskade in Gang gesetzt, inklusive der Bildung spezifischer Gedächtniszellen. Ist der Organismus später dem tatsächlichen Erreger ausgesetzt, kann er schnell, effizient und spezifisch reagieren ohne schwere Komplikationen zu entwickeln. Eine generelle Impfpflicht gibt es in hierzulande nicht. Die Ausnahme bildet die Masernimpfung: Seit 2020 muss bei Eintritt in eine Kindertagesstätte oder Schule ein Masern-Impfnachweis erbracht werden. Die STIKO gibt für Deutschland Impfempfehlungen heraus, an denen sich orientiert werden kann. sollte unabhängig von Bundesland und Krankenkasse Normalität sein, Betriebsärzten das Impfen erleichtert werden und auch automatisierte Impferinnerungen sollten Standard sein. Wenn dann noch niedrigschwellig Impfungen aktiv angeboten werden, bin ich überzeugt davon, dass die Impfquoten steigen.“ Ein Mitarbeiter Wielers hatte sich im April ebenfalls gegen die Impfpflicht-Pläne ausgesprochen, die Spahn und der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach verfolgen. „Ich finde, bevor wir eine Impfpflicht einführen, sollten wir erst einmal versuchen, andere Sachen zu optimieren bei uns“, sagte der Leiter der Impfprävention am RKI, Ole Wichmann, gegenüber dem Bayerischen Rundfunk.

Impfpflicht nur als letzter Weg vertretbar

Ulrich Heininger etwa, Mitglied der Ständigen ImpfkommissionImpfkommission Die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut berät und empfiehlt mit Hilfe eines unabhängigen Expert*innengremiums welche Impfungen wann sinnvoll sind. Ihre Empfehlungen haben weitreichende Konsequenzen. Aus diesem Grund folgt die STIKO der systematischen Methodik der Evidenzbasierten Medizin (EbM) und bewertet das Nutzen-Risiko-Verhältnis jeder Impfung. Sie gibt Impfkalender heraus und informiert über Impfabstände. Die STIKO beantwortet in ihrem Internet-Auftritt Fragen von Bürgern und Ärzten rund um das Thema »Impfen« und möchte so eine breite Öffentlichkeit umfangreich informieren. Eingerichtet wurde sie bereits im Jahre 1972, seit 2001 ist die STIKO zudem gesetzlich über das Infektionsschutzgesetz verankert. Seit 2007 entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) auf Grundlage der STIKO-Empfehlungen, ob eine Impfung zur Pflichtleistung der Gesetzlichen Krankenkassen wird. Seit Ende 2015 existiert zudem eine Ständige Impfkommission Veterinärmedizin (StIKo Vet) am Friedrich-Loeffler-Institut, welche den Einsatz von Impfstoffen in der Tiermedizin bewertet. (StikoStiko Die STIKO - Ständige Impfkommission - am Robert-Koch-Institut berät und empfiehlt mit Hilfe eines unabhängigen Expert*innengremiums welche Impfungen wann sinnvoll sind. Ihre Empfehlungen haben weitreichende Konsequenzen. Aus diesem Grund folgt die ständige Impfkommission der systematischen Methodik der Evidenzbasierten Medizin (EbM) und bewertet das Nutzen-Risiko-Verhältnis jeder Impfung. Sie gibt Impfkalender heraus und informiert über Impfabstände. Die STIKO beantwortet in ihrem Internet-Auftritt Fragen von Bürgern und Ärzten rund um das Thema »Impfen« und möchte so eine breite Öffentlichkeit umfangreich informieren. Eingerichtet wurde sie bereits im Jahre 1972, seit 2001 ist die ständige Impfkommission zudem gesetzlich über das Infektionsschutzgesetz verankert. Seit 2007 entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) auf Grundlage der STIKO-Empfehlungen, ob eine Impfung zur Pflichtleistung der Gesetzlichen Krankenkassen wird. Seit Ende 2015 existiert zudem eine Ständige Impfkommission Veterinärmedizin (StIKo Vet) am Friedrich-Loeffler-Institut, welche den Einsatz von Impfstoffen in der Tiermedizin bewertet.), spricht sich für die Impfpflicht aus: Mit ihrer Einführung würde Impfen zur Normalität werden. Impflücken beruhten außerdem häufiger auf Gleichgültigkeit und Unwissenheit, als dass sie aktiv abgelehnt werden. Durch eine Impfpflicht würden weniger Impfungen „vergessen“. Allerdings sieht Heininger eine Pflicht zu Impfen nicht nur für Masern, sondern gleich für alle von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen geboten.

Deutlich anders sieht es Georg Marckmann, Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU): Natürlich gebe es gute ethische Gründe, die Bemühungen zur Erhöhung der Masern-Impfquote weiter zu intensivieren, sagt er. Durch eine hohe Durchimpfungsrate seien eben nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch Dritte geschützt, die selbst keine ausreichende Immunität aufbauen können. „Eine gesetzliche Impfpflicht ist jedoch erst dann ethisch vertretbar, wenn alle anderen möglichen Interventionen wie Informationskampagnen, Erinnerungssysteme, gezielte Nachimpfung und weitere versagt haben.“

Erfahrungen anderer Länder, insbesondere Skandinaviens, würden zudem belegen, dass auch ohne eine gesetzliche Impfpflicht ausreichend hohe Impfquoten für die Eliminierung der Masern erreicht werden können. „Eine gesetzliche Impflicht erscheint deshalb in Deutschland aktuell nicht gerechtfertigt, zumal mit einer Gegenbewegung der ImpfgegnerImpfgegner Eine Impfgegnerin oder ein Impfgegner ist eine Person, die Impfungen ablehnt, oder sie zumindest verzögert wahrnimmt, trotz guter Verfügbarkeit eines Impfangebotes. Diese Haltung beruht wohl auf einem mangelnden Bewusstsein gegenüber dem Gefahrenpotential einer Infektionskrankheit wie Masern, Polio und Co., da diese Krankheiten samt ihren negativen Folgen aktuell aufgrund jahrelanger konsequenter Impfungen in der Bevölkerung nicht mehr wahrnehmbar sind. Weitere Gründe sind sowohl mangelnde Information sowie eine mangelnde Informationsbereitschaft als auch bewusst falsch gesetzte Fehlinformationen über Impfungen und mögliche Impfreaktionen. So lauten oft aufgeführte Argumente: »Impfungen helfen nicht, da auch Geimpfte erkranken.«, »Impfungen sind schädlich und können Krankheiten wie Autismus auslösen.« sowie »Es ist besser, der Körper setzt sich auf natürliche Weise mit dem Erreger auseinander.« All diese Argumente sind falsch. Im extremsten Fall leugnen Impfgegner*innen sogar das Viren Krankheiten auslösen oder gar die Existenz von Viren an sich. zu rechnen ist und die Durchsetzung der Impfpflicht viele noch offene Fragen aufwirft“, erklärt Marckmann. Zwei Prozent der Menschen in Deutschland lehnen Impfungen generell ab, berichtet Ethiker Marckmann. 13 Prozent stehen der Impfungen kritisch gegenüber. Gründe seien vor allem die Angst vor Nebenwirkungen oder die Überzeugung, dass es besser ist, Krankheiten selbst durchzumachen. „Diese impfkritischen Personen sind nicht durch eine gesetzliche Impflicht zu überzeugen, sondern nur durch proaktive Information und Aufklärung.“ Im Gegenteil: Eine gesetzliche Impflicht könnte das Vertrauen in die anderen empfohlenen Impfungen weiter unterminieren, argumentiert er.

Kommt die Masern-Impfpflicht jetzt?

Es scheint derzeit relativ sicher, dass das Gesetz zur Impfpflicht bei Masern noch in diesem Jahr vom Bundestag beschlossen wird. Am Mittwoch hat laut Informationen der Deutschen Presseagentur auch Angela Merkel ihre Zustimmung signalisiert. Wer sich impfen lasse, könne Zivilisationskrankheiten vermeiden erklärte die Kanzlerin bei einem Kongress der Union zu Gesundheitsfragen in Berlin. SPD-Chefin Andrea Nahles und SPD-Vize Lauterbach hatten ihre Zustimmung bereits vor einigen Tagen erklärt.

Auch die Grünen haben ihre abwehrende Haltung teils aufgegeben, wie die Partei nach einer Debatte am Dienstag bekannt gab.Die Partei will die Masern-Impfung nun zur verbindlichen Bedingung für die Aufnahme von Kindern in Kitas machen, heißt es in einem Antrag, der MedWatch vorliegt. Zudem muss jeder, der in Betreuungseinrichtungen für Kinder, Schulen oder Pflegeeinrichtungen arbeitet „so schnell wie möglich einen ausreichenden Impfschutz“ nachweisen. Um die Impfquoten bei Erwachsenen für Masern und anderen empfohlenen Impfungen zu erhöhen, soll ein „Einladungswesen“ durch niedergelassene Ärzte etabliert werden.

Kritik am Gesundheitsminister gibt es dennoch.  Spahn habe etwa „überhaupt keine Antworten“ auf die unzureichende Impfquote bei Erwachsenen, erklärte Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt gegenüber der Deutschen Presseagentur. Die Grünen rücken zudem den Nationalen Impfplan 2015-2020 wieder in den Blick. Sie fragen die Bundesregierung in ihrem Antrag, welche Maßnahmen, die seinerzeit durch Spahns Vorgänger Hermann Gröhe ähnlich tösend verkündet wurden, bisher bereits umgesetzt sind.

Impfkritiker haben derweil eine Petition erstellt – und bereits fast 100.000 Stimmen gegen die Einführung einer Impfpflicht gesammelt.