Seit November 2018 gibt es die Twitter-Initiative „Twankenhaus“, die Missstände und Reformideen im Gesundheitswesen diskutiert. Gestartet wurde es durch rund 50 Menschen aus dem Gesundheitswesen, die sich mehr oder weniger zufällig auf Twitter kennenlernten – und feststellten, dass sie alle die gleichen Probleme haben: Arbeiten im Gesundheitswesen ist heute selten so, wie es sein sollte: Nah am Patienten, genug Zeit etwa für Anamnese und Pflege. Stattdessen Zeitdruck, Überstunden, Schichten ohne Pause. Im „Twankenhaus“ sind alle Professionen vertreten: Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte, Studentinnen und Studenten, Menschen aus dem Rettungsdienst, Patientenvertreterinnen und Vertreter und Physiotherapeutinnen und Therapeuten. Ein erstes Treffen in der echten Welt führte die Aktiven im Frühjahr nach Hamburg, seitdem wird in Arbeitsgruppen diskutiert, Themenwochen etwa zur Realität im Rettungsdienst durchgeführt und Positionspapiere erarbeitet.
Das „Twankenhaus“ versteht sich als Thinktank, in dem jeder Gesundheitsfachberuf seine Stimme hat und einen Einblick in die jeweilige Perspektive liefert. Diese Multiprofessionalität aus Krankenpflegekräften, Rettungskräften, Therapeuten, Ärzten und weiteren Berufen soll es ermöglichen, Probleme aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten.
Im September haben sich die Menschen hinter der Twitter-Initiative in Mainz zu einem eigenen Verein zusammengeschlossen. Wir haben mit einigen der Aktiven aus dem Vereinsvorstand gesprochen:
Katharina Bröhl: Ärztin aus Berlin, steht kurz vor der Prüfung zur Fachärztin für Innere Medizin.
Bettina Frank: Vertritt die Patientensicht im „Twankenhaus“. Sie ist Migräne-Patientin und Gründerin des Migräne-Selbsthilfe-Netzwerks Headbook. Sie ist für Social Media zuständig.
Jochen Stather: Rettungssanitäter und zusätzlich Operationsassistent bei niedergelassenen Orthopäden.
Kathrin Hüster: Seit 18 Jahren Krankenschwester, davon sieben auf Intensivstationen. Sie legt Wert auf Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Ärzten, Pflegern und Patienten.
Christian Lübbers: Hals-Nasen-Ohrenarzt aus München und Sprecher des Informationsnetzwerks HomöopathieHomöopathie Der deutsche Arzt Samuel Hahnemann postulierte gegen Ende des 18. Jh.s: »Ähnliches heilt Ähnliches«. So leitet sich das Wort Homöopathie von Homoion (für ähnlich) und Pathos (für Leiden) ab. Hahnemann verfolgte die Theorie, dass der Auslöser einer Krankheit oder der Auslöser für bestimmte Symptome auch zu deren Therapie genutzt werden kann. Bekanntestes Beispiel dafür ist die Chinarinde, mit der früher Malaria behandelt wurde. Die Einnahme dieser löste in einem Selbstversuch Hahnemanns Symptome einer Malaria aus. Damit sah er seine Theorie bestätigt. Die Homöopathie ist heute eine eigenständige Therapieform in der Alternativmedizin. Häufig werden für Globuli und Tinkturen die eingesetzten Substanzen zur Behandlung so stark verdünnt, dass in ihnen kein Wirkstoff mehr vorhanden ist. Für die Wirkung der Verdünnungen (Potenzen) wird ein Gedächtnis des Lösungsmittels, z.B. Wasser, angenommen. Für solch ein Gedächtnis von Wasser oder für eine generelle Wirkweise der Homöopathie über den Effekt eines Placebos hinaus gibt es jedoch keine wissenschaftlichen Belege; trotz mehr als 200 hochwertiger Studien dazu..
MedWatch: Was will das „Twankenhaus“?
Christian Lübbers: Der Ansatz ist weit gefasst: Wie gelingt es, die Medizin besser zu machen? Wie können Ärzte und Therapeuten wieder mehr Zeit für ihre Patienten haben, ohne im Hamsterrad der budgetierten Medizin zu Dumpingpreisen gefangen zu sein? Mein persönliches Anliegen ist es, die Medizin ehrlicher, ethischer und vor allem menschlicher zu machen, damit weniger Patienten Gefahr laufen, in die Falle der Pseudomedizin zu tappen. Unsere große Stärke ist der direkte Einblick von Beschäftigten. Im Gegensatz zu vielen Standespolitikern wissen wir wirklich, worüber wir reden.
MedWatch: Im Gesundheitssystem ist vieles verbesserungsbedürftig. Durch den Austausch im „Twankenhaus“ über alle Fachbereiche hinaus: Was würden Sie als wichtige gemeinsame Baustellen bezeichnen?
Katharina Bröhl: Finanzierung und Budgetierung (Anmerkung der Red.: Betriebswirtschaftliche Planungsprozesse, Ziel ist die Erstellung eines Budgets, welches die geplante Zukunft eines Unternehmens in Form von Zahlen abbildet) lähmt uns alle und macht uns unglaublich große Schwierigkeiten. Dies ist zum Nachteil für die Patienten, zum Nachteil für die Pflege, den Rettungsdienst, die Ärzte und die anderen therapeutischen Berufe.
MedWatch: Was ist genau das Problem daran?
Jochen Stather: Längst ist es so, dass die Finanzierung des Gesundheitswesens die medizinische Versorgung steuert, die wir alle erhalten: Die Medizin ist nicht primär daran ausgerichtet, was sinnvoll ist, sondern daran, ob und wo eine medizinische Leistung vergütet wird. Dabei müsste es doch umgekehrt sein – erst die Entscheidung über Notwendigkeit und Nutzen und dann Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebots.
Und die Bürger machen sich überhaupt nicht klar, wie sehr die Medizin längst den Regeln des Marktes unterworfen ist.
Recherchen belegen: R. hatte kürzlich noch MMS vorrätig
Wie eine versteckte Recherche des ARD-Magazins „Kontraste“ und MedWatch ergab, empfahl der Thüringer Allgemeinmediziner auch vor wenigen Wochen noch MMS – und verkaufte es sogar direkt an Patienten. Dabei wurde Ende letzten Jahres ein Verkäufer von MMS-Präparaten vom Landgericht Hildesheim in erster Instanz zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Auf Nachfrage einer Testpatientin – die mir ihrem Sohn zu R. ging, da der Junge an AutismusAutismus Autismus ist ein Sammelbegriff, der verschiedene Entwicklungsstörungen benennt: die sog. Autismus-Spektrum-Störungen. Dabei handelt es sich um tiefgreifende neurologische Entwicklungsstörungen, die das soziale Leben erschweren, zu Problemen mit sozialen Kontakten führen, und auch Einfluss auf die Kommunikation und Sprache haben. Sie wirken sich ebenso auf das Verhaltensrepertoire aus uns führen zu stereotypen Handlungen. Autismus äußert sich in Art, Ausprägung und Schwere sehr individuell. Manche entwickeln nur leichte Symptome, andere sind schwer beeinträchtigt. Es gibt z.B. den frühkindlichen Autismus, das Asperger-Syndrom und den atypischen Autismus. Es kann zu Intelligenzminderung oder zu Inselbegabungen (Savant-Syndrom) kommen. leide – bestätigte der Arzt, dass das Mittel geeignet sei. „Sie werden MMS-Patienten, sie werden nämlich Einläufe machen“, sagte er zu ihr, und verwies auf Erfahrungen mit einem anderen jungen Patienten. „Er ist dadurch kindergartenfähig geworden“, sagte R. Später ging er in einen Nebenraum, wo er MMS griffbereit hatte und es der Mutter verkaufte. R. bestritt auf Nachfrage von MedWatch, MMS empfohlen zu haben. „Ich behandle niemanden mit Chlordioxid-Lösung“, schrieb er. „Ausführungen über die Chlordioxid-Anwendung bei einem autistischen Kind waren private Erfahrungen.“ Auch seine Ehefrau äußerte sich gegenüber „Kontraste“: „Solange wir hier als Kassenarzt tätig sind, würde es uns nie einfallen, irgendwelche Substanzen anzuwenden, die jetzt nicht offiziell erlaubt sind“, sagte sie.Darf R. weiter praktizieren?
„Wenn solche Verhaltensweisen bekannt werden, gehört für mich bei Ärzten die ApprobationApprobation Die Approbation (lateinisch approbatio ‚Anerkennung‘, ‚Genehmigung‘) entspricht der Genehmigung zur eigenverantwortlichen Berufsausübung entsprechend der jeweiligen Approbationsordnung. Wichtige Voraussetzungen für eine Approbation ist ein erfolgreich abgeschlossenes Studium, auch ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis gehört dazu, ebenso gesundheitliche Eignung und ausreichende Sprachkenntnisse. Weitere Voraussetzungen für die Berufserlaubnis variieren und unterscheiden sich je nach Heilberuf. Approbationen werden für die Bereiche Arzt, Zahnarzt, Psychotherapeut, Apotheker oder Tierarzt erteilt. Die dazugehörigen Approbationsordnungen erlässt das Bundesministerium für Gesundheit. entzogen“, erklärt die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Sabine Dittmar, gegenüber MedWatch. „Es ist unglaublich. Sowas muss Konsequenzen haben“, sagt die Abgeordnete, die früher selber als Hausärztin tätig war. Auf Nachfrage von MedWatch erklärt die Staatsanwaltschaft Erfurt, dass sie prüft, ob ein Anfangsverdacht für strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt (Az. 630 AR 356/18). Eine Nachfrage, ob eine Razzia vorgenommen wurde, ließ der Sprecher offen. „Auf Grund der arzneimittelrechtlichen Bestimmungen sind nicht zugelassene ArzneimittelArzneimittel Arzneimittel sind Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die angewandt werden, um Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder Beschwerden zu heilen, zu lindern oder zu verhüten. Es kann sich hierbei ebenfalls um Mittel handeln, die dafür sorgen, dass Krankheiten oder Beschwerden gar nicht erst auftreten. Die Definition beinhaltet ebenso Substanzen, die der Diagnose einer Krankheit nutzen oder seelische Zustände beeinflussen. Die Mittel können dabei im Körper oder auch am Körper wirken. Das gilt sowohl für die Anwendung beim Menschen als auch beim Tier. Die gesetzliche Definition von Arzneimitteln ist im § 2 Arzneimittelgesetz (AMG) enthalten. grundsätzlich nicht verkehrsfähig“, erklärt ein Sprecher des Thüringer Gesundheitsministeriums. Bisher habe es keine Erkenntnisse über unzulässiges Inverkehrbringen von MMS in Thüringen gegeben – auch nicht dazu, dass Ärzte oder HeilpraktikerHeilpraktiker Heilpraktiker*in ist ein Medizinberuf, der auf dem deutschen Heilpraktikergesetz (HPG) beruht. Es handelt sich um einen sogenannten freien Beruf, dem keine einheitliche Ausbildung zugrunde liegt. Weder eine medizinische Ausbildung noch eine berufsqualifizierende Fachprüfung sind dafür erforderlich. Folgende Tätigkeiten bzw. Tätigkeitsfelder sind jedoch ausgeschlossen: Geburtshilfe, Geschlechtskrankheiten, meldepflichtige übertragbare Krankheiten, die Verordnung verschreibungspflichtiger Arzneimittel, die Verordnung von Betäubungsmitteln. In Österreich ist der Beruf verboten. MMS anwenden. Doch seien „die Ergebnisse der Medienberichterstattung“ an das zuständige Landesamt für VerbraucherschutzVerbraucherschutz Verbraucherschutz ist deutschland- und europaweit ein breit gefächertes Gebiet. So gibt es ein Amt für Verbraucherschutz, ein Bundesinstitut für Risikobewertung, die EFSA – die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit – und eine Health-Claims-Verordnung. In Deutschland existieren 16 Verbraucherzentralen und weitere verbraucherpolitische Organisationen, die in einem gemeinsamen Bundesverband gebündelt sind. Verbraucherschutz beinhält Rechtsvorschriften und Verbraucherrechte die z.B. Bereiche wie Lebensmittelsicherheit, Kaufverträge und Verträge mit Banken und Geldinstituten berücksichtigen. weitergegeben worden, um die Vorwürfe zu überprüfen. „Außerdem wurden die LandesärztekammerLandesärztekammer Die 17 deutschen Landesärztekammern dienen der Selbstverwaltung der Ärztinnen und Ärzte in Deutschland. Für jeden Arzt und jede Ärztin besteht eine Pflichtmitgliedschaft in ihrer oder seiner jeweiligen Ärztekammer. Welche Kammer zuständig ist, hängt davon ab, in welchem Bundesland er oder sie seine ärztliche Tätigkeit ausübt. Die Aufgaben der einzelnen Landesärztekammern sind durch die jeweiligen Kammergesetze des Landes geregelt. Dazu gehören Aufgabenbereiche aus der Berufs- und Gesundheitspolitik, ärztliche Weiter- und Fortbildung und Qualitätssicherung. Die einzelnen Landesärztekammern haben die Bundesärztekammer als Spitzenorganisation. Thüringen und die Thüringer Approbationsbehörde über die Medienberichte zur Berufsausübung von Dr. R. [von der Redaktion gekürzt] informiert und um Prüfung hinsichtlich der Berufsausübung und der Approbation gebeten.“ Auch sei das für Kinder- und Jugendschutz zuständige Ministerium informiert worden.Berufsrechtliche Überprüfung der Ärztekammer
Der Landesärztekammer Thüringen seien die früheren Äußerungen R.s noch nicht bekannt gewesen, erklärt ein Sprecher – doch nun werde die Kammer „die notwendigen Schritte zur berufsrechtlichen Überprüfung einleiten“. Daneben informiere sie die Staatsanwaltschaft, das Landesverwaltungsamt in Weimar als zuständige Approbationsbehörde und die Kassenärztliche Vereinigung. Die BundesärztekammerBundesärztekammer Die Bundesärztekammer (BÄK) vereint die 17 deutschen Ärztekammern unter sich. Sie vertritt die berufspolitischen Interessen aller Ärzt*innen in Deutschland und vermittelt den Erfahrungsaustausch zwischen den einzelnen Ärztekammern. Ihr Ziel ist es unter anderem möglichst einheitliche Regeln zur Berufsordnung von Ärzten und Arztinnen herbeizuführen. Sie pflegt Kontakte zur Bundesregierung, zum Bundesrat sowie zu den politischen Parteien. verwies auf Nachfrage auf die Überprüfung der Landesärztekammer – und auf die Bundesärzteordnung, welche die Erteilung und den Widerruf von Approbationen regelt. Nach dieser ist die Approbation zu widerrufen, wenn Ärzte sich eines Verhaltens schuldig machen, aus dem sich ihre Unzuverlässigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufs ergibt. Doch erfahrungsgemäß ziehen sich derartige Verfahren über Monate oder gar Jahre hin.Bröhl: Die Einführung der DRGs (Anmerkung der Redaktion: abgekürzt „Diagnosis Related Groups“, deutsch: diagnosebezogene Fallgruppen) in den Krankenhäusern war ja gut gedacht, um Kosten und die exorbitanten Liegezeiten einzugrenzen. Doch es ist nach hinten los gegangen und hat die Türe für die Kommerzialisierung der Medizin geöffnet. Zudem stehen hinter vielen Krankenhäusern und auch zunehmend Praxen Investoren, die Gewinne abschöpfen wollen. Es kann nicht sein, dass Krankenhäuser Profit erwirtschaften müssen und dass das Geld, das vorhanden ist, oft in völlig falsche Bereiche gesteckt wird – nämlich in die, die besonders lukrativ sind, das heißt in die interventionelle oder operative Medizin. Alles das führt zur Unterfinanzierung und letztlich auch Unterversorgung in der konservativen Medizin, zum Beispiel in Kinderklinken, in einer guten Behandlung von alten oder psychisch kranken Menschen – das ist nämlich selten profitabel. Aber so funktioniert Medizin nicht.
Dazu kommt eine ausufernde Bürokratisierung in der Medizin. Die Pflegekräfte sind meist damit beschäftigt, irgendwelche Sachen zu dokumentieren, damit etwas abgerechnet werden kann, statt wirklich Pflege am Menschen zu leisten.
Kathrin Hüster: Ich warte noch auf den Tag, an dem ich dokumentieren muss, dass ich auf die Toilette gegangen bin. Ich dokumentiere auf Papier, im PC und noch mal extra etwas für die Geschäftsführung. Bei acht Stunden Pflege heute gehen gern bis zu vier Stunden für Dokumentation drauf. Gute Pflege wird durch die Kassen nicht refinanziert.
MedWatch: Betrifft das nur die Situation in der Klinik?
Bröhl: Auch die niedergelassenen Kollegen werden mit drohender Regressforderungen und überbordender Bürokratie sowie immer neuen Regularien von der Arbeit am Patienten abgehalten. Der Ansatz, Pauschalisierungen einzuführen, war vielleicht nicht falsch, aber das Prinzip ist gescheitert, und darunter leiden wir alle. Geld wird ja leider immer noch wenig genutzt, um zum Beispiel mehr Pflegekräfte einzustellen, neue Personaloffensiven scheitern an schlechter Bezahlung und schlechten Arbeitsbedingungen – die sind auch in den anderen Berufsgruppen seit Jahren immer schlechter geworden. Der Fachkräftemangel ist exorbitant in allen Bereichen. Das sind alles Probleme, die in der Politik und auch in der breiten Öffentlichkeit zu wenig diskutiert werden. Es wird auch mit den falschen Leuten gesprochen. Warum hat die Politik externe Berater, anstatt einmal mit den Leuten zu sprechen, die in den Berufen arbeiten und mit den Patienten zu tun haben?
Hüster: Als ich meine Ausbildungen gemacht habe, gab es noch keine DRGs, da war die Krankenhauswelt noch anders. Das heißt: Ich kenne noch Frühdienste mit neun Kollegen, heute unvorstellbar. Dann kamen die DRGs, das hatte man sich in Australien abgeschaut – und dort sind die längst wieder abgeschafft. Mit den FallpauschalenFallpauschalen Über die Fallpauschale werden seit 2004 voll- und teilstationäre Leistungen ermittelt und berechnet. Für den Krankenhausbereich gibt es somit eine eigene Regelung, die sich von den Abrechnungen in Arztpraxen unterscheidet, da bei der stationären Behandlung für Privat- und Kassenpatienten gleiche Entgelte zugrunde gelegt werden. Kritiker bemängeln, dass das Fallpauschalen-System zu einer Verschiebung weg von Allgemeinkrankenhäusern in öffentlicher Trägerschaft hin zu Privatkliniken führt. Grundlagen für die Fallpauschalen-Berechnung bilden die Klassifizierungssysteme ICD-10 (International Classification of Diseases) und OPS (Operationen- und Prozedurenschlüssel). wird ja die komplette Behandlung weitgehend unabhängig vom Pflegebedarf im Einzelfall bezahlt.
Recherchen belegen: R. hatte kürzlich noch MMS vorrätig
Wie eine versteckte Recherche des ARD-Magazins „Kontraste“ und MedWatch ergab, empfahl der Thüringer Allgemeinmediziner auch vor wenigen Wochen noch MMS – und verkaufte es sogar direkt an Patienten. Dabei wurde Ende letzten Jahres ein Verkäufer von MMS-Präparaten vom Landgericht Hildesheim in erster Instanz zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Auf Nachfrage einer Testpatientin – die mir ihrem Sohn zu R. ging, da der Junge an Autismus leide – bestätigte der Arzt, dass das Mittel geeignet sei. „Sie werden MMS-Patienten, sie werden nämlich Einläufe machen“, sagte er zu ihr, und verwies auf Erfahrungen mit einem anderen jungen Patienten. „Er ist dadurch kindergartenfähig geworden“, sagte R. Später ging er in einen Nebenraum, wo er MMS griffbereit hatte und es der Mutter verkaufte. R. bestritt auf Nachfrage von MedWatch, MMS empfohlen zu haben. „Ich behandle niemanden mit Chlordioxid-Lösung“, schrieb er. „Ausführungen über die Chlordioxid-Anwendung bei einem autistischen Kind waren private Erfahrungen.“ Auch seine Ehefrau äußerte sich gegenüber „Kontraste“: „Solange wir hier als Kassenarzt tätig sind, würde es uns nie einfallen, irgendwelche Substanzen anzuwenden, die jetzt nicht offiziell erlaubt sind“, sagte sie.Darf R. weiter praktizieren?
„Wenn solche Verhaltensweisen bekannt werden, gehört für mich bei Ärzten die Approbation entzogen“, erklärt die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Sabine Dittmar, gegenüber MedWatch. „Es ist unglaublich. Sowas muss Konsequenzen haben“, sagt die Abgeordnete, die früher selber als Hausärztin tätig war. Auf Nachfrage von MedWatch erklärt die Staatsanwaltschaft Erfurt, dass sie prüft, ob ein Anfangsverdacht für strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt (Az. 630 AR 356/18). Eine Nachfrage, ob eine Razzia vorgenommen wurde, ließ der Sprecher offen. „Auf Grund der arzneimittelrechtlichen Bestimmungen sind nicht zugelassene Arzneimittel grundsätzlich nicht verkehrsfähig“, erklärt ein Sprecher des Thüringer Gesundheitsministeriums. Bisher habe es keine Erkenntnisse über unzulässiges Inverkehrbringen von MMS in Thüringen gegeben – auch nicht dazu, dass Ärzte oder Heilpraktiker MMS anwenden. Doch seien „die Ergebnisse der Medienberichterstattung“ an das zuständige Landesamt für Verbraucherschutz weitergegeben worden, um die Vorwürfe zu überprüfen. „Außerdem wurden die Landesärztekammer Thüringen und die Thüringer Approbationsbehörde über die Medienberichte zur Berufsausübung von Dr. R. [von der Redaktion gekürzt] informiert und um Prüfung hinsichtlich der Berufsausübung und der Approbation gebeten.“ Auch sei das für Kinder- und Jugendschutz zuständige Ministerium informiert worden.Berufsrechtliche Überprüfung der Ärztekammer
Der Landesärztekammer Thüringen seien die früheren Äußerungen R.s noch nicht bekannt gewesen, erklärt ein Sprecher – doch nun werde die Kammer „die notwendigen Schritte zur berufsrechtlichen Überprüfung einleiten“. Daneben informiere sie die Staatsanwaltschaft, das Landesverwaltungsamt in Weimar als zuständige Approbationsbehörde und die Kassenärztliche Vereinigung. Die Bundesärztekammer verwies auf Nachfrage auf die Überprüfung der Landesärztekammer – und auf die Bundesärzteordnung, welche die Erteilung und den Widerruf von Approbationen regelt. Nach dieser ist die Approbation zu widerrufen, wenn Ärzte sich eines Verhaltens schuldig machen, aus dem sich ihre Unzuverlässigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufs ergibt. Doch erfahrungsgemäß ziehen sich derartige Verfahren über Monate oder gar Jahre hin.MedWatch: Was bedeutet das?
Hüster: Für uns, die wir Tag für Tag am Patienten arbeiten heißt das, dass der Aufwand unserer Arbeit nicht gegenfinanziert wird. Außer bei schwersten Pflegefällen, macht es keinen Unterschied, ob ein junger Mensch nach einer leichten Blinddarmentzündung behandelt werden muss oder ein sehr alter Patient mit vielen Begleiterkrankungen und einer nicht unerheblichen Hilfsbedürftigkeit operiert wurde. Das ist ein großes Problem. Im Endergebnis sehe ich heute jeden Tag überarbeitete Assistenzärzte, die völlig erschöpft sind, dazu viele überforderte Pflegekräfte.
MedWatch: Warum machen Ärzte und Pfleger das mit?
Hüster: Es kommt noch stark aus dem grundlegenden Aufopferungsgedanken in der Pflege – das wandelt sich gerade ein wenig. Viele lernen, konsequent Nein zu sagen. Dann gibt es auch den Druck durch die Arbeitgeber, die Gewinnmaximierung schwebt über allem. Geplant wird mit viel zu hohen Fallzahlen, viel zu vielen Patienten und viel zu wenig Personal. Das kommt zudem auch nicht nach. Unser Assistenzarzt betreut dann zum Beispiel die Intensivstation, die Intensivüberwachungspflege und nachts zusätzlich noch den OP. Das kann der nicht schaffen, selbst wenn ich als erfahrene Pflegekraft versuche, das aufzufangen. Dass ist nicht meine Aufgabe, von Haftungsfragen mal ganz abgesehen. Viele gehen völlig am Krückstock.
Ich habe viele Assistenzärzte gesehen, die mit dieser Situation nicht zurechtkommen. Ich sage ihnen dann, dass sie doch bitte mal zu Hause bleiben und sich ausschlafen sollen. Trotzdem kommen sie am nächsten Tag wieder. Wenn ich sehe, dass ein 28-Jähriger Assistenzarzt kurz vor dem Burnout steht, dann läuft definitiv etwas schief, das kann so nicht weiter gehen. Die Leidtragenden sind die Patienten.
Bettina Frank: Definitiv. Auch immer mehr Patienten merken, wie viel schiefläuft, etwa wenn sie beim niedergelassenen Arzt sind. Dieser kann sich ja kaum noch Zeit nehmen, etwa für eine Anamnese, er muss die Patienten schnell durchschleusen und kann sich oft nicht ausreichend um den Einzelnen kümmern. Aber er muss aus wirtschaftlichen Zwängen weitermachen. Der Patient soll bloß keine Zusatzfragen stellen. Die sprechende Medizin muss gestärkt werden, damit Patienten nicht abwandern in Pseudotherapien. Unter diesen Alternativen, die keine sind, verschlechtern sich Erkrankungen, chronifizieren und bedeuten Zusatzkosten für unser Gesundheitssystem.
MedWatch: Sind die DRGs das einzige Problem?
Lübbers: Nein. Der bereits genannte Personalmangel in vielen Bereichen ist eine große Belastung, die schwindende Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung, Übertherapien oder das fehlende Bekenntnis zu evidenzbasierten Medizin und die zunehmende Zahl von Impfverweigerern stellen weitere gravierende Probleme dar.
MedWatch: Welche Forderungen und Vorschläge hat das „Twankenhaus“, hier etwas zu ändern?
Frank: Das Gesundheitssystem muss wieder den Patienten, den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Kliniken sollten zwar rentabel sein, aber keine Wirtschaftsunternehmen mehr. Auch sollten Ärzte nicht gezwungen sein, Patienten wie am Fließband abzufertigen, nur um die Praxis halten zu können. Termine beim Facharzt müssten wieder zeitnaher möglich sein, nicht selten bestehen Wartezeiten von einem halben Jahr und mehr.
Bröhl: Unser Themenspektrum ist breit gefächert: Bisher haben wir uns mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, den Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen, der Situation im Rettungsdienst und den Zusammenhängen von Klimawandel und Gesundheit befasst. Andere wichtige Themen stehen an, wie einer besseren Aus- und Weiterbildung in den Gesundheitsberufen oder eine kluge und verantwortungsvolle Digitalisierung. Zudem befassen wir uns viel mit einer besseren Gesundheitsbildung. Unsere Forderungen entstehen gerade in der Diskussion. Wir stehen nicht mit Plakaten vor dem Bundesgesundheitsministerium, sondern wir überlegen, wie wir in einen zielführenden Diskurs gehen können. Es haben sich mittlerweile verschiedene Arbeitsgruppen gebildet, die Vorschläge erarbeiten.
Recherchen belegen: R. hatte kürzlich noch MMS vorrätig
Wie eine versteckte Recherche des ARD-Magazins „Kontraste“ und MedWatch ergab, empfahl der Thüringer Allgemeinmediziner auch vor wenigen Wochen noch MMS – und verkaufte es sogar direkt an Patienten. Dabei wurde Ende letzten Jahres ein Verkäufer von MMS-Präparaten vom Landgericht Hildesheim in erster Instanz zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Auf Nachfrage einer Testpatientin – die mir ihrem Sohn zu R. ging, da der Junge an Autismus leide – bestätigte der Arzt, dass das Mittel geeignet sei. „Sie werden MMS-Patienten, sie werden nämlich Einläufe machen“, sagte er zu ihr, und verwies auf Erfahrungen mit einem anderen jungen Patienten. „Er ist dadurch kindergartenfähig geworden“, sagte R. Später ging er in einen Nebenraum, wo er MMS griffbereit hatte und es der Mutter verkaufte. R. bestritt auf Nachfrage von MedWatch, MMS empfohlen zu haben. „Ich behandle niemanden mit Chlordioxid-Lösung“, schrieb er. „Ausführungen über die Chlordioxid-Anwendung bei einem autistischen Kind waren private Erfahrungen.“ Auch seine Ehefrau äußerte sich gegenüber „Kontraste“: „Solange wir hier als Kassenarzt tätig sind, würde es uns nie einfallen, irgendwelche Substanzen anzuwenden, die jetzt nicht offiziell erlaubt sind“, sagte sie.Darf R. weiter praktizieren?
„Wenn solche Verhaltensweisen bekannt werden, gehört für mich bei Ärzten die Approbation entzogen“, erklärt die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Sabine Dittmar, gegenüber MedWatch. „Es ist unglaublich. Sowas muss Konsequenzen haben“, sagt die Abgeordnete, die früher selber als Hausärztin tätig war. Auf Nachfrage von MedWatch erklärt die Staatsanwaltschaft Erfurt, dass sie prüft, ob ein Anfangsverdacht für strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt (Az. 630 AR 356/18). Eine Nachfrage, ob eine Razzia vorgenommen wurde, ließ der Sprecher offen. „Auf Grund der arzneimittelrechtlichen Bestimmungen sind nicht zugelassene Arzneimittel grundsätzlich nicht verkehrsfähig“, erklärt ein Sprecher des Thüringer Gesundheitsministeriums. Bisher habe es keine Erkenntnisse über unzulässiges Inverkehrbringen von MMS in Thüringen gegeben – auch nicht dazu, dass Ärzte oder Heilpraktiker MMS anwenden. Doch seien „die Ergebnisse der Medienberichterstattung“ an das zuständige Landesamt für Verbraucherschutz weitergegeben worden, um die Vorwürfe zu überprüfen. „Außerdem wurden die Landesärztekammer Thüringen und die Thüringer Approbationsbehörde über die Medienberichte zur Berufsausübung von Dr. R. [von der Redaktion gekürzt] informiert und um Prüfung hinsichtlich der Berufsausübung und der Approbation gebeten.“ Auch sei das für Kinder- und Jugendschutz zuständige Ministerium informiert worden.Berufsrechtliche Überprüfung der Ärztekammer
Der Landesärztekammer Thüringen seien die früheren Äußerungen R.s noch nicht bekannt gewesen, erklärt ein Sprecher – doch nun werde die Kammer „die notwendigen Schritte zur berufsrechtlichen Überprüfung einleiten“. Daneben informiere sie die Staatsanwaltschaft, das Landesverwaltungsamt in Weimar als zuständige Approbationsbehörde und die Kassenärztliche Vereinigung. Die Bundesärztekammer verwies auf Nachfrage auf die Überprüfung der Landesärztekammer – und auf die Bundesärzteordnung, welche die Erteilung und den Widerruf von Approbationen regelt. Nach dieser ist die Approbation zu widerrufen, wenn Ärzte sich eines Verhaltens schuldig machen, aus dem sich ihre Unzuverlässigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufs ergibt. Doch erfahrungsgemäß ziehen sich derartige Verfahren über Monate oder gar Jahre hin.Lübbers: Ein Ziel unseres Thinktanks ist schon bereits durch den Diskussionsprozess erreicht. Aber darauf aufbauend schreiben wir Positionspapiere in der Hoffnung, dass wir mit dem multiprofessionellen Ansatz unseres Diskurses auch treffendere und vor allem tragfähigere Lösungen für das gesamte Gesundheitssystem finden können.
MedWatch: Denken Sie, dass Sie mit Ihren Forderungen in absehbarer Zeit wirklich etwas erreichen können?
Lübbers: Natürlich sind wir Realisten und wissen, dass wir dieses große Gesundheitssystem nicht in wenigen Jahren umkrempeln können. Aber wir freuen uns, wenn die multiprofessionellen Perspektiven des „Twankenhaus“ frischen Wind in verfahrene Diskussionen bringen können.
Stather: Genau, wir wollen durch den Austausch zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen breit aufgestellte Lösungsansätze entwickeln, die Grundlage für eine echte Änderung im Gesundheitswesen darstellen können.