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Geschlechtsangleichende Operationen als Kassenleistung Kommentar zum BSG-Urteil: Nicht-binäre Personen warten weiter auf Gleichbehandlung

Flagge der Non-Binären. Symbole für männlich (Mars), weiblich (Venus) und Gendersymbol mit x ineinander verzahnt.
Non-binäre Menschen werden vom Gesundheitssystem diskriminiert. © Kwamikagami / Wikimedia Commons

Personen, die sich nicht ausschließlich als männlich oder weiblich identifizieren, erleben Diskriminierung in vielen Facetten – auch im Gesundheitswesen. Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht den Schutz der geschlechtlichen Identität von trans* Personen bereits vor sechs Jahren als Grundrecht anerkannt. Wollen Betroffene eine geschlechtsangleichende OperationOperation Im medizinischen Kontext bezeichnet eine Operation (OP) ein chirurgisches Verfahren mit speziellen Instrumenten an einen Organismus. Hierbei wird Gewebe geschnitten oder geschlossen mit dem Ziel Erkrankungen, Verletzungen oder Deformitäten zu behandeln. Der Übergang bezüglich der Definition von einem medizinischen Eingriff hin zu einer Operation ist fließend. durchführen lassen, winken KrankenkassenKrankenkassen Eine Krankenkasse ist der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Krankenkassen stellen den Versicherten Leistungen zur Verfügung, die nach Vorlage der elektronischen Gesundheitskarte in Anspruch genommen werden können. Die meisten dieser Leistungen sind im SGB V festgeschrieben. Krankenkassen sind organisatorisch sowie finanziell unabhängig und unterstehen der Aufsicht von Bund oder Ländern. Im Gegensatz zu gesetzlichen Krankenversicherungen sind private Krankenversicherungsunternehmen Aktiengesellschaften oder Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (VVaG). bei der Kostenübernahme meist ab. Das Bundessozialgericht hat diese Haltung nun zum Leidwesen nicht-binärer Personen bestätigt.

Trans* Personen wurden nach der Geburt einem Geschlecht zugewiesen, das nicht ihrer geschlechtlichen Identität entspricht. Bewegt sich diese Identität innerhalb der binären Geschlechterordnung, zahlt ihnen die gesetzliche Krankenversicherung unter bestimmten Voraussetzungen eine operative Geschlechtsangleichung. Die Anforderungen, insbesondere an den psychischen Leidensdruck, sind zwar hoch. Aber binäre trans* Personen können ihre Krankenkasse mit genug Durchhaltevermögen und Rechtsbeistand von der Notwendigkeit überzeugen.

Aber was ist mit trans* Personen, die sich geschlechtlich nicht verorten lassen möchten? Manche von ihnen würden ihren Leidensdruck ebenfalls gerne durch eine Operation verringern, damit sie nicht mehr ständig als binäre Person, als Mann oder Frau wahrgenommen werden. 

So auch die klagende Person, die nun vor dem Bundessozialgericht gegen die Techniker Krankenkasse unterlag. Sie tritt in der Öffentlichkeit unter dem Pseudonym Robin Nobicht auf.1https://taz.de/Nicht-binaere-Person-ueber-Diskriminierung/!5967440/ Während das Sozialgericht Mannheim Nobicht in erster Instanz noch recht gegeben hatte, lehnten zunächst das Landessozialgericht und jetzt das Bundessozialgericht eine Pflicht der Krankenkasse zur Kostenübernahme für die bereits durchgeführte Operation ab.2https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=BSG&Datum=31.12.2222&Aktenzeichen=B%201%20KR%2016/22%20R

Grundgesetz schützt auch nicht-binäre Geschlechtsidentität

Gemäß Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes darf niemand wegen seines Geschlechts benachteiligt werden. Die Verfassung sieht nicht vor, dass es nur zwei Geschlechter gibt, sie schützt auch nicht-binäre Menschen. Mehr noch, diese bedürfen in unserer binär geprägten Gesellschaft eines besonderen Schutzes vor Diskriminierungen: „Die Vulnerabilität von Menschen, deren geschlechtliche Identität weder Frau noch Mann ist, ist in einer überwiegend nach binärem Geschlechtsmuster agierenden Gesellschaft besonders hoch“, stellte das Bundesverfassungsgericht 2017 in seiner Entscheidung zur dritten Option fest.3https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/10/rs20171010_1bvr201916.html Gleichzeitig besteht beim Zugang zu medizinischen Behandlungen für trans* Personen in Deutschland noch großes Entwicklungspotenzial, räumt sogar die Antidiskriminierungsstelle des Bundes ein.4https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskriminierungsmerkmale/geschlecht-und-geschlechtsidentitaet/trans/trans-node.html

Auch Krankenkassen sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts an das Gleichbehandlungsgebot unserer Verfassung gebunden. Wie kann es dann sein, dass einer trans* Person eine Geschlechtsangleichung verweigert wird, nur weil diese sich nicht als männlich oder weiblich identifiziert? Sind vor dem (Sozial-)Gesetz nicht alle Menschen gleich?

Vor dem Bundessozialgericht ging es konkret um die Entfernung der Brustdrüsen (Mastektomie). Laut der Begutachtungsanleitung „Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus“ des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS)5Stand: 31. August 2020, abrufbar unter https://md-bund.de/fileadmin/dokumente/Publikationen/GKV/Begutachtungsgrundlagen_GKV/BGA_Transsexualismus_201113.pdf zählt diese Operation zu den geschlechtsangleichenden Maßnahmen „mit der Möglichkeit der Annäherung an das andere Geschlecht“. Genau hier zeigt sich der Fehler, den die Krankenkassen reproduzieren: Die Empfehlung des MDS gilt nur bei „Frau-zu-Mann-Transsexualismus“ (Zitat aus der Begutachtungsanleitung). Nicht-binäre trans* Personen sind davon schlicht nicht erfasst.

Trans-Identität als „Krankheit“?


Problemlösung auf Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben

Das Bundessozialgericht hat Ende Oktober eine historische Chance verpasst, die Rechte von nicht-binären Menschen zu stärken. Stattdessen reicht es das Problem an die Selbstverwaltungsgremien der gesetzlichen Krankenversicherung weiter: Die Richter:innen halten die Mastektomie bei non-binären Personen für eine neue Behandlungsmethode, deren therapeutischer Nutzungen noch nicht durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA)6Der G-BA ist das höchste Selbstverwaltungsgremium in der gesetzlichen Krankenversicherung und entscheidet gemäß § 135 SGB V über die Aufnahme neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in den Leistungskatalog der Krankenkassen. anerkannt sei. 

Nicht zum ersten Mal führt dies zu der paradoxen Situation, dass die gesetzliche Versorgung dem aktuellen Stand der Wissenschaft hinterherhinkt. Wo die S3-Leitlinie der medizinischen Fachgesellschaften7Medizinische Leitlinien sind Handlungsempfehlungen für Ärzt:innen auf Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes. Eine S3-Leitlinie entspricht dabei nach dem System der AWMF der höchsten methodischen Qualitätsstufe. von einer „Verschiebung des traditionellen paternalistischen Verhältnisses zugunsten einer symmetrischen und partnerschaftlichen (partizipativen) Beziehung“ zwischen Behandelnden und trans* Personen spricht, sieht das Bundessozialgericht die Gefahr von „irreversiblen Fehlentscheidungen“, vor denen Betroffene geschützt werden müssten.8https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Verhandlungen/DE/2023/2023_10_19_B_01_KR_16_22_R.html; Hinweis: Die Entscheidungsgründe des Urteils sind noch nicht veröffentlicht. Auf nicht-binäre Menschen dürfte dieser Richterspruch wie eine Entmündigung wirken.

Die Empfehlungen der Leitlinie richten sich hingegen an die medizinische Versorgung von binären und nicht-binären trans* Menschen gleichermaßen. Es scheint fast so, als würden die medizinischen Fachgesellschaften das Diskriminierungsverbot im Grundgesetz ernster nehmen als manche Sozialrichter:innen. 

Robin Nobicht könnte nun Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundessozialgerichts erheben. In einer Pressemitteilung der klagenden Person, ihrer Anwält:innen und der TIN-Rechtshilfe schloss die Fachanwältin für Sozialrecht Katrin Niedenthal diesen Schritt nicht aus. Zunächst müsse jedoch „die schriftliche Urteilsbegründung des BSG abgewartet werden.“


Redaktion: Sigrid März, Martin Rücker, Nicole Hagen

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    https://taz.de/Nicht-binaere-Person-ueber-Diskriminierung/!5967440/
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    https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=BSG&Datum=31.12.2222&Aktenzeichen=B%201%20KR%2016/22%20R
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    https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/10/rs20171010_1bvr201916.html
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    https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskriminierungsmerkmale/geschlecht-und-geschlechtsidentitaet/trans/trans-node.html
  • 5
    Stand: 31. August 2020, abrufbar unter https://md-bund.de/fileadmin/dokumente/Publikationen/GKV/Begutachtungsgrundlagen_GKV/BGA_Transsexualismus_201113.pdf
  • 6
    Der G-BA ist das höchste Selbstverwaltungsgremium in der gesetzlichen Krankenversicherung und entscheidet gemäß § 135 SGB V über die Aufnahme neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in den Leistungskatalog der Krankenkassen.
  • 7
    Medizinische Leitlinien sind Handlungsempfehlungen für Ärzt:innen auf Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes. Eine S3-Leitlinie entspricht dabei nach dem System der AWMF der höchsten methodischen Qualitätsstufe.
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    https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Verhandlungen/DE/2023/2023_10_19_B_01_KR_16_22_R.html; Hinweis: Die Entscheidungsgründe des Urteils sind noch nicht veröffentlicht.