Vor zwei Jahren erkrankte Marlene Beier schwer an Long COVID und ME/CFS. Seitdem erlebt sie eine nicht enden wollende Odyssee durch GesundheitssystemGesundheitssystem Das deutsche Gesundheitssystem ist ein duales Krankenversicherungssystem bestehend aus der GKV (Gesetzlichen Krankenversicherung) und der PKV (private Krankenversicherungen). Seit der Gesundheitsreform 2007 muss jeder, der in Deutschland seinen Wohnsitz hat, eine Krankenversicherung haben. Wichtig ist zudem das Prinzip der Selbstverwaltung und der Sachleistung. D.h. Krankenkassen erfüllen die ihnen gesetzlich übertragenen Aufgaben in eigener Verantwortung. Es existiert eine gemeinsame Selbstverwaltung der Leistungserbringer und Kostenträger. Wichtigstes Organ hierbei auf Bundesebene ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). und Sozialbürokratie. Die 39-Jährige steht heute vor der Rente und kämpft mit einem System, das auf Fälle wie ihren noch immer nicht vorbereitet ist. Anhand von mehr als 350 Seiten voller Briefe, Befunde und Bescheide hat sie MedWatch ermöglicht, ihre Geschichte nachzuzeichnen.
Der Ort, an dem sich Marlene Beier erstmals verstanden fühlte, war keine Arztpraxis, sondern eine Facebook-Gruppe. Als sie nach ihrer CoronaCorona Mit Corona bezeichnet die Allgemeinbevölkerung zumeist SARS-CoV-2 (Severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2). Es ist ein neues Beta-Coronavirus, welches zu Beginn des Jahres 2020 als Auslöser der Krankheit COVID-19 identifiziert wurde. Coronaviren waren schon vor 2020 altbekannt. In Menschen verursachen sie vorwiegend milde Erkältungskrankheiten (teils auch schwere Lungenentzündungen) und auch andere Wirte werden von ihnen befallen. SARS-CoV-2 hingegen verursacht wesentlich schwerere Krankheitsverläufe, mit Aufenthalten auf der Intensivstation bis hin zum Tod. Der Virusstamm entwickelte und entwickelt seit seiner Entdeckung verschiedene Virusvarianten, die in ihren Aminosäuren Austausche aufweisen, was zu unterschiedlichen Eigenschaften bezüglich ihrer Infektiosität und der Schwere eines Krankheitsverlaufes führt. Seit Dezember 2020 steht in Deutschland ein Impfstoff gegen SARS-CoV-2 zur Verfügung.-Infektion einfach nicht mehr gesund wurde, stieß sie beim Googeln auf eine Selbsthilfegruppe, hörte zum ersten Mal von „Long COVID“. Ein Begriff, den bezeichnenderweise Betroffene erfunden hatten, als sie sich in den sozialen Medien organisierten – lange bevor das Gesundheitssystem aufwachte. Auf Facebook fand sie „einen Austausch mit anderen Menschen, die auch nicht verstehen, was mit ihrem Körper gerade passiert.“ Und die vor allem mehr Verständnis für sie aufbrachten als Beiers Ärzte.
Es ist der erste Corona-Winter, als es Beier erwischt. Sie ist damals 37 Jahre alt, sportlich fit und voller Energie, eine promovierte Naturwissenschaftlerin mit Job in der klinischen Forschung. Eine, die sich auskennt im Gesundheitssystem. So jedenfalls denkt sie, als sie noch nicht ahnen kann, welch Odyssee sie in den folgenden zweieinhalb Jahren erleben wird. Eine Odyssee, die beispielhaft ist für die Geschichten zigtausender Long-COVID-Erkrankter, die im Gesundheits- und im Sozialsystem durch alle Raster fallen.
Long COVID oder Post COVID?
Die Odyssee um Long Covid
Bis zum Tag, an dem dieser Text erscheint, wird Beier mehr als 100 Termine bei Ärzt:innen hinter sich gebracht haben, in Hausarztpraxen, in der Kardiologie, der Psychologie, der Neurologie, der Orthopädie und bei weiteren Spezialist:innen. Sie wird sechs Labore besucht, dutzende Blutuntersuchungen und fünf MRTs gemacht haben; sie wird acht Mal in der Klinik gewesen sein, drei Mal in der Notaufnahme. Sie wird gut 100 Sitzungen bei Physio-, Ergo- und anderen Therapeut:innen absolviert sowie mehr als 30 Medikamente und NahrungsergänzungsmittelNahrungsergänzungsmittel Nahrungsergänzungsmittel werden den Lebensmitteln zugeordnet und sind abgegrenzt von Medikamenten zu betrachten. So dürfen sie, wie der Name schon sagt, die normale Ernährung ergänzen, sie jedoch nicht ersetzen und zudem keine arzneiliche Wirkung zeigen. Sie werden als Kapseln, Tabletten, Tropfen oder Ähnliches angeboten und enthalten oft Vitamine, Mineralstoffe oder sonstige Nährstoffe, die eine Wirkung erzielen sollen. Sie dürfen jedoch nicht wie ein Arzneimittel beworben werden. Die Hersteller dürfen keine spezifische Wirkung wie die Linderung oder Vorbeugung einer Krankheit anpreisen oder für ein definiertes Anwendungsgebiet werben. ausprobiert haben, ohne gesund zu werden. Und sie wird es nicht mehr zählen können, wie oft sie telefonisch oder schriftlich mit Behörden Kontakt hatte: mit der Agentur für Arbeit, dem Versorgungsamt, der Kranken- und Pflegekasse und mit der Rentenversicherung. Alles, um ihr Leben als Long-COVID-Patientin zu organisieren.
Marlene Beier, die in Wirklichkeit einen anderen Namen trägt, hat es MedWatch ermöglicht, ihre Geschichte anhand von Patientenakten und Behördendokumenten nachzuzeichnen. Es sind rund 350 Seiten: Labordaten, Ärztebriefe, Bescheide, E-Mails und Briefe. Auf diesen Unterlagen sowie auf Gesprächen mit Beier beruht die Darstellung in diesem Text.
Erst im Januar 2023 wird ihr eine Diagnostik vorliegen, die all das zusammenfasst, was in all den Monaten zuvor nach und nach herausgefunden wurde. Ihre heutige Ärztin bescheinigt ihr darin neben dem Post-COVID-Syndrom auch die Multisystemerkrankung ME/CFS, die sich bei Beier in Form von Durchblutungsstörungen, Herzrhythmusbeschwerden und verschiedenen Nervenerkrankungen zeigt. Bei genaueren Blutuntersuchungen fielen sogenannte Autoantikörper auf. Antikörper also, die sich gegen das eigene Gewebe richten. Beiers Ärztin hält es deshalb für wahrscheinlich, dass die Beschwerden entstanden, weil Coronaviren andere Viren reaktiviert haben, die Beier seit einer früheren Epstein-Barr-Infektion in sich trägt.
Ursachen von Long COVID
Der Versuch, wieder zu arbeiten, scheitert nach wenigen Tagen
Alles beginnt mit einem positiven PCR-Test. Beier erhält das Ergebnis im November 2020, wenige Tage, nachdem sie mit mittelschweren Erkältungssymptomen zum Arzt gegangen war. Geschmacks- und Geruchssinn fallen aus, kommen nach einer guten Woche langsam wieder, aber niemals so ganz. Nach vier Wochen sind die nachhallenden Stimmen und Geräusche in den Ohren die stärksten Anzeichen dafür, dass da etwas bleibt.
Den Versuch, wieder zu arbeiten, bricht Beier nach wenigen Tagen ab. „Ich musste jeden Satz drei, vier, fünf Mal lesen, um ihn zu verstehen, und habe nach kurzer Zeit am Bildschirm starke Kopfschmerzen bekommen“, erzählt sie heute, seit mittlerweile zweieinhalb Jahren arbeitsunfähig. In einer Nacht Anfang Dezember 2020 beginnt ihr Herz zu stolpern, Atemnot beklemmt sie – zum ersten Mal landet sie in der Notaufnahme. Atembeschwerden und drückende Kopfschmerzen, Konzentrationsprobleme und Wortfindungsstörungen, Phasen der Verwirrtheit und starke Erschöpfung, sogenannte Fatigue, werden sie fortan begleiten.
Eine evidente, heilende TherapieTherapie Therapie bezeichnet eine Heil- oder Krankenbehandlung im weitesten Sinn. Es kann hierbei die Beseitigung einer Krankheitsursache oder die Beseitigung von Symptomen im Mittelpunkt stehen. Ziel einer jeden Therapie ist die Widerherstellung der physischen und psychischen Funktionen eines Patienten durch einen Therapeuten. Soweit dies unter den jeweiligen Bedingungen möglich ist. für Long COVID gibt es nicht. Erst auf ihr „Bitten und Betteln“ hin habe sich Beiers Hausarzt darauf eingelassen, etwas zu versuchen, verschreibt auf ihren Wunsch schließlich Kortison. Zudem verweist er sie an mehrere Fachärzte, Physio- und Ergotherapeuten und an mehrere Long-COVID-Spezialambulanzen.
Feststellen kann der Hausarzt bei seinen Untersuchungen nichts. Ratlos, so erinnert sich die Patientin, sucht er im Katalog der Diagnosecodes nach „Fatigue“ und stößt zuerst auf psychische Erkrankungen, doch auch das trifft es nicht. „Mit jedem nicht objektivierbaren Problem gab mein Hausarzt ein bisschen auf“, erinnert sich Beier.
Uniklinik verweist an Selbsthilfegruppe
Anfang 2021 beginnt für Beier der Kampf mit der Bürokratie. Offenbar bereitet die Kodierung des Long-COVID-Syndroms ihrer Krankenkasse noch Probleme – jedenfalls dauert es Monate, bis Beier Krankengeld erhält. Zunächst bekommt sie noch Gehalt vom Arbeitgeber. Später versäumt er es, Verdienstbescheinigungen an die Kasse zu schicken. Immer wieder ist es die schwer erkrankte Patientin, die nachfassen muss.
Ihr erster Besuch in einer Long-COVID-Ambulanz endet ohne Ergebnis. Im Untersuchungsbericht findet sich kaum mehr als der Hinweis auf die Adresse einer lokalen Selbsthilfegruppe. Was sagt es über ein Gesundheitssystem aus, wenn eine Uniklinik einer Schwerkranken nichts Besseres empfehlen kann, als sich an andere Schwerkranke zu wenden?
Ihr Hausarzt merkt, dass die einst so energiegeladene Frau nicht auf die Beine kommt, überweist sie an weitere Spezialkliniken – mehrere Monate lang wird sie, wie so viele, auf Termine warten müssen. Bringen werden sie ihr nichts: „Wir haben dort gemeinsam das Problem bewundert, aber einen Tipp habe ich nicht bekommen.“
Wer ist von Long COVID betroffen?
Nebenwirkungen der ersten ImpfungImpfung Eine Impfung hilft, vor schwer verlaufenden Infektionskrankheiten zu schützen. Durch abgeschwächte Erreger, durch Bruchteile von Erregern oder seit Neuestem mit mRNA-Stücken von Erregern wird bei einer aktiven Schutzimpfung das Immunsystem über die gezeigten Antigene spezifisch aktiviert. Dem Körper wird durch eine Impfung vorgegaukelt mit einem echten Erreger infiziert zu sein. Dadurch wird die gesamte Immunsystem-Kaskade in Gang gesetzt, inklusive der Bildung spezifischer Gedächtniszellen. Ist der Organismus später dem tatsächlichen Erreger ausgesetzt, kann er schnell, effizient und spezifisch reagieren ohne schwere Komplikationen zu entwickeln. Eine generelle Impfpflicht gibt es in hierzulande nicht. Die Ausnahme bildet die Masernimpfung: Seit 2020 muss bei Eintritt in eine Kindertagesstätte oder Schule ein Masern-Impfnachweis erbracht werden. Die STIKO gibt für Deutschland Impfempfehlungen heraus, an denen sich orientiert werden kann.
Im Mai 2021 lässt sich Beier gegen COVID-19Covid-19 COVID-19 ist ein Akronym für die englische Bezeichnung Coronavirus Disease 2019, was so viel wie Corona-Virus-Krankheit 2019 heißt. Sie wird von dem neuen Beta-Coronavirus SARS-CoV-2 und seinen Varianten ausgelöst. Eine Erkrankung mit COVID-19 äußert sich zumeist – ca. vier bis sechs Tage nach Infektion – relativ unspezifisch durch Husten, Schnupfen, Halsschmerzen und Fieber sowie Störungen des Geruchs- und/oder Geschmackssinns. Atemnot, Kopf- und Gliederschmerzen, allgemeine Schwäche oder auch Magen-Darm-Beschwerden wie Übelkeit, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen und Durchfall können hinzukommen. Die Symptome können je nach Virusvariante variieren. Auch schwere Verläufe mit Aufenthalten auf der Intensivstation bis hin zum Tod sind möglich. impfenImpfen Eine Impfung hilft, vor schwer verlaufenden Infektionskrankheiten zu schützen. Durch abgeschwächte Erreger, durch Bruchteile von Erregern oder seit Neuestem mit mRNA-Stücken von Erregern wird bei einer aktiven Schutzimpfung das Immunsystem über die gezeigten Antigene spezifisch aktiviert. Dem Körper wird durch eine Impfung vorgegaukelt mit einem echten Erreger infiziert zu sein. Dadurch wird die gesamte Immunsystem-Kaskade in Gang gesetzt, inklusive der Bildung spezifischer Gedächtniszellen. Ist der Organismus später dem tatsächlichen Erreger ausgesetzt, kann er schnell, effizient und spezifisch reagieren ohne schwere Komplikationen zu entwickeln. Eine generelle Impfpflicht gibt es in hierzulande nicht. Die Ausnahme bildet die Masernimpfung: Seit 2020 muss bei Eintritt in eine Kindertagesstätte oder Schule ein Masern-Impfnachweis erbracht werden. Die STIKO gibt für Deutschland Impfempfehlungen heraus, an denen sich orientiert werden kann.. Die Nebenwirkungen sind heftig. Wie Nadelstiche spürt sie Schmerzen am ganzen Körper, die sie zunächst gar nicht auf die Impfung zurückführt. Stattdessen geht sie von Nebenwirkungen einer hyperbaren Sauerstofftherapie aus, bei der sie im selben Zeitraum in 24 Sitzungen in einer Druckkammer reinen Sauerstoff einatmet, um regenerative Prozesse im Körper anzustoßen.
Zehn Tage nach ihrer Impfung landet Beier erneut in der Notaufnahme, als während einer Autofahrt ihr Herz zu rasen beginnt und ein Drehschwindel sie befällt. Es ist die nächste Klinik, die sie ohne Befund entlässt.
Immerhin fühlt sie sich nach der Sauerstofftherapie etwas besser. Nach Widerspruchsverfahren und Gutachten des Medizinischen Dienstes lehnt die Krankenkasse eine Kostenübernahme allerdings endgültig ab und Beier finanziert die rund 6.000 Euro dafür aus eigener Tasche. „Fast jeden Therapieversuch, der mir geholfen hat, musste ich selbst bezahlen“, sagt sie. Auf insgesamt fast 20.000 Euro werden sich ihre Kosten bis heute summieren, für Medikamente, Zuzahlungen und Laboruntersuchungen.
Reha-Aufenthalt wird zum Debakel
Auf Empfehlung ihrer Hausarztpraxis beantragt Beier schließlich eine Reha. Sie selbst ist es, die nach zahlreichen Anfragen schließlich eine Klinik findet, die sie noch im laufenden Jahr aufnimmt und alle Genehmigungen für den Aufenthalt einholt. Als sie die Kur Mitte November 2021 antritt, sind einige ihrer Symptome abgeklungen: Sie kann wieder mehrere Kilometer spazieren gehen, schwimmen und Fahrrad fahren. Zu schaffen machen ihr vor allem noch die Kopfschmerzen – in der Reha hofft sie auf einen Durchbruch. Doch unter all den schlechten Erfahrungen wird es die schlechteste. „Ich kam mit neurologischen Beschwerden und wurde zum Töpfern geschickt“, sagt Beier – und beschreibt damit noch das kleinste Problem.
Fünf Wochen lang unterzieht sie sich Sporttherapien, Motivationsförderprogrammen und einem Kurs in Selbstmanagement. Es ist ein psychotherapeutischer Ansatz – dabei gibt es nichts, was auf ein psychisches Problem hindeutet. Auch später wird eine Psychologin ihr bescheinigen, „dass keine psychische oder psychosomatische Erkrankung vorliegt“.
Reha bei Long COVID
In der Klinik lässt sich Beier zum zweiten Mal impfen. Sie reagiert erneut, so sagt sie es, mit Fieber, Schüttelfrost, Herzrasen und schwersten Kopfschmerzen – und jenen nadelstichartigen Schmerzen, die sie bereits von der ersten Impfung kennt. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), zuständig für die Erfassung von Impfschäden, erfährt nichts von den Problemen: Beim ersten Mal bringt Beier ihre Beschwerden nicht mit der Impfung zusammen, beim zweiten Mal denken weder sie noch ihre Ärzte an eine Meldung. Auch im Reha-Bericht findet sich kein Wort zu einer Impfreaktionen. Gegen die Kopfschmerzen raten die Reha-Ärzt:innen zu Pfefferminzöl. „Das hat wenig überraschend überhaupt nichts gebracht“, sagt Beier.
Die Patientin war „sehr zufrieden“ – und landet kurz darauf im Krankenhaus
Zwei Tage vor Weihnachten wird sie aus der Einrichtung entlassen: „Arbeitsunfähig“, aber mit der Empfehlung für eine „stufenweise Wiedereingliederung“ in den Job von April des folgenden Jahres an. Kraft und Ausdauer hätten sich leicht verbessert, notieren die Ärzte, während Beier selbst sagt, dass das Programm ihr nicht genutzt habe, sondern sie sich danach ausgelaugt gefühlt habe. Im Bericht der Ärzte aber steht, die Patientin sei „sehr zufrieden“ mit dem Verlauf.
Eine Woche nach ihrer Entlassung landet die Patientin erneut im Krankenhaus. Auch die Beschwerden, die sich kurz nach der Impfung gezeigt hatten, sind zurück – dazu Schwindelgefühle und Übelkeit, immer wieder bleiben die Bilder, die ihre Augen ans Gehirn übertragen, einfach „stehen“.
Nach zwei Wochen verlässt sie, erneut ohne klaren Befund, das Krankenhaus. Der Reha-Aufenthalt, so sieht es Beier, hat ihr nicht nur nicht geholfen, sondern geschadet. Beschwerde gegen den Reha-Bericht legt sie nicht ein – sie kann es nicht. „Ich wusste nicht, ob ich den Januar überstehe. Meine Mutter saß damals schon verzweifelt an meinem Bett, weil wir nicht wussten, was mit mir los ist.“
2022 – ME/CFS wird diagnostiziert
2022 hat bereits begonnen. Das Jahr, in dem Fachärzte bei Beier erstmals die Diagnose ME/CFS stellen werden: Die Multisystemerkrankung, die einen Teil der Long-COVID-Betroffenen ereilt, mit den unterschiedlichsten Symptomen, aber immer mit der Post-Exertionellen Malaise, kurz PEM. Überschreiten Betroffene ihre Belastungsgrenze, kommt es zum Crash – die Symptome verschlimmern sich, manchmal dauerhaft. Für Beier ist PEM die Erklärung für das, was sie in und nach der Reha erfahren hat.
Zunächst aber beantragt sie bei ihrem Versorgungsamt einen Schwerbehindertenausweis, der ihr mit einem Grad von 40 gewährt wird, und bei ihrer Krankenkasse Pflegeleistungen. Nach wenigen Wochen wird ihr Pflegestufe 2 bewilligt. Fortan erhält Beier 316 Euro im Monat dafür, dass ihre Ehefrau die häusliche Pflege übernimmt. Noch zuvor erreicht sie ein anderes Schreiben: Ihre Krankenkasse teilt Beier mit, dass der Medizinische Dienst auf Grundlage des Reha-Berichts eine stufenweise Wiedereingliederung in den Beruf empfiehlt – ohne die Patientin selbst jemals gesehen zu haben.
Medizinischer Dienst rät: „Memory spielen“
Ihr Hausarzt stellt schließlich klar, dass ihr dies nicht möglich sei, allerdings erst, nachdem Beier 40 Euro für eine solche Bescheinigung bezahlt. Er überweist sie zu weiteren Spezialisten – ohne Ergebnis – und an eine neurologische Ambulanz, wo sich Beier stationär wegen ihrer Schwindelgefühle untersuchen lassen soll. Der Termin kommt nicht zustande: Die Klinik fordert eine „Einweisung“, die der Hausarzt nach dessen Aussage nicht ausstellen kann – eine „Überweisung“ aber will die Klinik nicht akzeptieren. Wieder gehen E-Mails und Telefonate hin und her, bis sich Beier schließlich an einen anderen Spezialisten wendet, abermals privat bezahlt. Derweil sendet der Medizinische Dienst eine Pflegegutachterin. Sie bestätigt ihre Pflegestufe und empfiehlt Beier in ihrem Bericht, zum „Erhalt der Selbständigkeit“ regelmäßig Memory zu spielen.
Ende Mai 2022 meldet sich Beier arbeitslos. Ihr Arbeitsvertrag läuft zwar ungekündigt weiter, doch gibt es einen Sonderfall, das Nahtlosigkeitsarbeitslosengeld: Menschen können es trotz bestehendem Arbeitsverhältnis erhalten, wenn sie so lange krank sind, dass ihr Krankengeld ausläuft, sie aber noch keine Rente erhalten.
Der nächste Kampf mit der Bürokratie beginnt, und es mag ihr vorkommen, als hätte Kafka sich aufgemacht, die Suche nach Passierschein A 38 selbst in die Hand zu nehmen – aber erst, nachdem Godot eingetroffen ist, um mitzuhelfen. „An manchen Tagen habe ich es nur geschafft, die neuen Unterlagen zu lochen“, sagt Beier, „und da war ich wirklich stolz drauf.“
Long Covid bei der Agentur für Arbeit nicht vorgesehen
Die Posse beginnt bereits mit der Arbeitslosmeldung. Beiers Anruf reicht dem Amt nicht aus, doch eine Online-Bestätigung per digitalem Personalausweis scheitert: Das Bürgeramt hatte nach einem Umzug Beiers neue Adresse zwar per Aufkleber auf dem Ausweis angebracht, es jedoch versäumt, die digitalen Daten der Karte zu aktualisieren. Die meist bettlägerige Long-COVID-Patientin, die zwar krank ist, aber nicht arbeitslos, muss sich aufs Amt schleppen, um ihre Arbeitslosmeldung zu bestätigen.
Wenige Wochen später öffnet sie den Brief ihres „Jobvermittlers“. „Ich möchte mit Ihnen Ihre aktuelle berufliche Situation besprechen“, schreibt er und bittet Beier zu einem Termin aufs Amt, ihre Bewerbungsunterlagen möge sie doch gleich mitbringen. Nach einem längeren Telefonat überlegt er, dass ein solcher Termin „möglicherweise“ gar nicht nötig sei. Stattdessen füllt Beier einen Gesundheitsfragebogen aus, und auch der zeigt, wie wenig ein Fall wie Long COVID vorgesehen war: Das Feld, in dem Beier ihre derzeitigen Symptome aufführen soll, ist so klein, dass sie weit über den Rand hinaus schreiben muss. In der Rubrik „Behandelnde Ärzte“ sind bis zu drei Einträge vorgesehen – Beier fügt eine Anlage an und notiert darauf neun aktuelle und zehn frühere Praxen.
Eine falsche Diagnose, um ein Rezept ausstellen zu können
Eine weitere Station kann sie im August 2022 auf ihre Liste setzen: Von ihrer Schwester lässt sie sich 450 Kilometer durch die Republik fahren, um ein weiteres Uniklinikum aufzusuchen. Doch die neurologischen Untersuchungen dort liefern keine organischen Befunde, die eine kausale Therapie aufzeigen können, sondern allenfalls Ideen. Auch das ist ein kaum beachtetes Problem der COVID-19-Langzeitfolgen: Patient:innen mäandern durch das Gesundheitswesen, sie überfluten Arztpraxen mit Terminen, wo sie die immergleichen Untersuchungen mit den immergleichen Ergebnissen über sich ergehen lassen, ohne wirklich Hilfe zu erhalten.
Ein Ratschlag der Uniklinik lautet erneut: Pfefferminzöl. Um einen weiteren Therapieversuch muss Beier kämpfen: Ein entzündungshemmendes Antidepressivum, das immer wieder bei Long-COVID-Betroffenen zum Einsatz kommt, will ihr Hausarzt trotz der Empfehlung der Uniklinik zunächst nicht off-label verschreiben. Nach einer Weile lässt er sich darauf ein, der Patientin eine Angststörung zu diagnostizieren, die sie aus Sicht des Arztes gar nicht hat. So rechtfertigt er es, das Rezept auszustellen.
Täglich 6 Stunden Arbeit sei möglich
Nach Beiers Rückkehr aus der Uniklinik meldet sich der Jobvermittler erneut. Man habe ein ärztliches Gutachten angefertigt, teilt er mit. „Ohne Kundenkontakt“, also ohne die Patientin je gesehen oder gesprochen zu haben, bescheinigt ihr ein Amtsarzt, „täglich 6 Stunden und mehr“ arbeiten zu können – zu dieser Zeit kann sie nicht mehr als zwei Stunden am Stück sitzen. Ihr fällt jetzt auf die Füße, so sieht sie es, dass sie nicht die Kraft aufbringen konnte, gegen den allzu positiven Reha-Bericht Beschwerde einzulegen.
Erst auf ihre Nachfrage hin erhält Beier das Gutachten der Arbeitsagentur zugesandt – zumindest einen Teil davon. Der andere Teil, der medizinische Diagnosen und Erörterungen enthalten soll, unterliege dem Datenschutz und verbleibe daher im Amt, teilt man ihr mit. In einem Videocall mit dem Jobvermittler äußert Beier ihren Unmut. Der aber fragt danach, welche Arbeit die Naturwissenschaftlerin, die nichts lieber als in ihren Job in der klinischen Forschung zurückkehren würde, sich nun vorstellen könnte. Vielleicht könnte „Pförtnerin“ passen, überlegt er schließlich, so berichtet es Beier.
Eine weitere Reha?
Es kostet sie Wochen, bis sich der Amtsarzt auf eine erneute Prüfung der Befunde und Unterlagen der behandelnden Ärzte einlässt und ein neues Gutachten erstellt, das Beier schließlich als arbeitsunfähig einstuft. Erst nach mehr als vier Monaten, im Januar 2023, wird sie es erhalten – auf Nachfrage.
Doch Ruhe kehrt auch jetzt nicht ein: Auf Empfehlung eines Facharztes, einen Behinderungsgrad von 70 anzuerkennen, hebt das Versorgungsamt ihn von 40 auf 50 an. Gleichzeitig muss Beier aufpassen, ihre Pflichten gegenüber der Pflegekasse nicht zu versäumen: Alle sechs Monate muss sie sich, da sie von einer Angehörigen gepflegt wird, um einen „Beratungstermin“ kümmern. Man wolle schauen, „ob Sie nicht verwahrlosen, während Ihre Angehörigen Ihr Pflegegeld bekommen“, erklärt ihr die Beraterin.
Auch ihr Kampf mit der Arbeitsagentur ist nicht zu Ende. Im September 2022 fordert sie Beier auf, ein Formular auszufüllen, mit dem sie ihre Erwerbsminderungsrente beantragen kann – für den Fall ihrer Reha-Unfähigkeit. Ohne die Betroffene zu informieren, nimmt die Behörde das Formular jedoch zum Anlass, eine erneute Reha-Maßnahme bei der Rentenversicherung zu beantragen. Prompt liegt die „Einladung“ einer Klinik im Briefkasten. Welche Ziele die Reha verfolgen soll, stimmt niemand mit ihr oder ihren Ärzten ab; erneut soll es ein psychosomatischer Ansatz sein, wie Beier erst auf mehrfache Nachfrage bei der Klinik erfährt.
2023 – ein drittes Mal in der Notaufnahme
Ende Januar 2023 landet Beier zum dritten Mal in der Notaufnahme, dieses Mal nach einem Kollaps zu Hause. Kurz darauf setzt die Pflegekasse ihre Pflegestufe auf 1 herab, weil ihr das Treppensteigen „nun langsam mit Festhalten und Pausen, jedoch eigenständig“ gelingt, wie es in einem neuen Pflegegutachten heißt – erstellt nach einem Hausbesuch bei Beier. Nach langem Hin und Her zwischen Arbeitsagentur und Rentenversicherung, die beide die jeweils andere Behörde als zuständig betrachten, gelingt es Beier schließlich, mithilfe einer ärztlichen Reha-Unfähigkeitsbescheinigung den zweiten Reha-Aufenthalt abzusagen – keine der Behörden wollte ihr allein die Frage beantworten, wie sie die Anreise zur weit entfernten Klinik hätte bewältigen sollen.
Seitdem hat sich Beiers Zustand ein wenig verbessert. Sie führt dies auf eine antivirale Therapie zurück. Mit ihrer Kasse streitet sie noch über die Kostenübernahme für Ganciclovir, ein zusätzliches antivirales Medikament, von dem sich ihre Ärztin weitere Fortschritte erhofft. Gerade wurde sie aufgefordert, umfangreiche Unterlagen zu ihren Befunden einzureichen, die die Kasse eigentlich längst besitzt.
Ausgang ungewiss
Ob die 39-Jährige auf absehbare Zeit in ihren Beruf zurückkehren kann, ist ungewiss. Über ihren Rentenantrag ist noch nicht entschieden. Die Rentenversicherung hatte sie zu einer weiteren, wie sie sagt: „Fleischbeschau“ einbestellt. Als Gutachter hat die Rentenversicherung einen Psychiater bestimmt: Der gesetzlichen Vorgabe, die der Antragstellerin eigentlich „eine Wahlmöglichkeit unter drei Gutachtern einräumt“, habe man „leider […] nicht entsprechen“ können, weil „keine weiteren Gutachter zur Verfügung stehen“. Mit zwiespältigen Gefühlen hat Beier den Termin absolviert, nun wartet sie auf den Bericht.
Im Austausch mit der Long-COVID-Betroffenen mischen sich Energie und Verzweiflung, Sarkasmus und Nachdenklichkeit. Was sie gelernt habe in diesen zweieinhalb Jahren? „Das Beste ist, wenn Sie einen Hausarzt finden, der Ihnen nicht im Weg steht, der auch bereit ist, etwas auszuprobieren. Denn als Patientin habe ich nicht die Energie, ständig irgendwelche Ärzte erst davon zu überzeugen, mir zu helfen.“
Beier weiß, dass es nicht nur ihr so geht – und das ist es, was „total viel Frust und Wut“ bei ihr hinterlässt. „Wir sind so viele“, sagt sie. „Wohin soll das führen?“
Redaktion: Henrik Müller, Sigrid März, Nicole Hagen