Flüchtlingsorganisationen und Ärzteschaft sind sich einig: Deutschlands Zweiklassenmedizin in der Versorgung schutzbedürftiger Menschen muss enden. Doch in den meisten Bundesländern entscheiden Sozialbehörden anstelle von Ärzten über die medizinische Behandlung von Geflüchteten. Warum?
Wer krank ist, möchte vor allem eine Person sprechen – einen Arzt oder eine Ärztin, und zwar auf direktem Weg. Doch Geflüchteten bleibt das oft verwehrt. Die Hälfte der deutschen Bundesländer verweigert ihnen in den ersten Monaten ihres Aufenthalts eine elektronische GesundheitskarteGesundheitskarte Die elektronische Gesundheitskarte (eGK) ist seit 2015 der ausschließliche Berechtigungsnachweis, um Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse in Anspruch nehmen zu können. Daten wie Name, Geburtsdatum, Anschrift und Angaben zur Krankenversicherung sind standardmäßig auf der Karte gespeichert. Ein Lichtbild auf der Karte ist verpflichtend für alle über 15 Jahren. Die Rückseite wird von den Kassen oft für die "Europäische Krankenversicherungskarte" verwendet und stellt so eine unbürokratische Behandlung innerhalb Europas sicher. Seit 2020 ist es möglich freiwillig zusätzliche Daten auf der Karte zu hinterlegen. Das können Informationen zu Arzneimittelunverträglichkeiten, Allergien und chronischen Erkrankungen sein, die im Notfall wichtig sind. Schwangerschaften, Informationen zu Implantaten, zu Organ- und Gewebespenden, Patientenverfügungen sowie weitere Kontaktdaten können hier hinterlegt werden.. Warum ist die Chipkarte so bedeutsam? Weil sich Menschen ohne sie nicht direkt an ärztliches Fachpersonal wenden können.
Der Hintergrund: Für alle Geflüchteten gilt bundesweit das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLGasylblg Das Asylbewerberleistungsgesetz regelt den Zugang zu Sozialleistungen und medizinischer Versorgung für Asylsuchende, Geduldete, und vollziehbar Ausreisepflichtige und ihre Familienangehörigen in Deutschland. Es regelt die Deckung des sogenannten notwendigen Bedarfs. Dazu zählen Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege, Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts. Zusätzlich sind Leistungen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens geregelt (notwendiger persönlicher Bedarf).). Während der ersten 18 Monate in Deutschland haben sie nach §4 AsylbLG Anspruch auf eine Notfallbehandlung bei akuter Erkrankung, bei Schmerzzuständen sowie bei Schwangerschaft und Geburt. Auch werden die Kosten für Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfungen übernommen. Für alles, was über eine Notfallversorgung hinausgeht, gilt der Ermessensweg: Zusätzliche Behandlungsleistungen werden gemäß § 6 AsylbLG nur gewährt, wenn sie „im Einzelfall zur Sicherung … der Gesundheit unerlässlich“ sind. Chronische Erkrankungen, Behinderungen sowie nicht akute Folgen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt bleiben somit unbehandelt – egal aufgrund welcher Kriege, Menschenrechtsverletzungen oder Naturkatastrophen jemand fliehen musste. Auf Vorsorgekuren, Reha-Maßnahmen, Zahnersatz, kieferorthopädische Behandlungen oder Psychotherapien haben Geflüchtete ebenfalls meist keinen Anspruch. Erst wenn sie eineinhalb Jahre ununterbrochen in Deutschland waren, können sie die regulären Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beanspruchen.
Gesundheitskarte oder Behandlungsschein
Auch elektronische Gesundheitskarten (eGK) erhalten Geflüchtete in den meisten Städten und Gemeinden erst nach 18 Monaten – obwohl ihre Ausgabe auch unter den Bedingungen des AsylbLG möglich wäre. Ohne Chipkarte werden sie von Arztpraxen – Notfälle ausgenommen – aber vielerorts abgewiesen. Denn sie können lediglich Papier – Kostenübernahmescheine für den eingeschränkten Leistungsumfang nach §§ 4 und 6 AsylbLG vorlegen. Das ist für Arztpraxen umständlich und oftmals unsicher.
Den daraus resultierenden Spießrutenlauf fasst Andrea Kothen, Referentin der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, zusammen: „Vor einem Arztbesuch müssen Geflüchtete zunächst ihr Sozialamt aufsuchen – zu dessen Öffnungszeiten – und sich einen Kostenübernahmeschein beziehungsweise einen Krankenschein ausstellen lassen. Nicht selten entscheidet dann medizinisch sachunkundiges Behördenpersonal nach individuellen Kriterien, ob eine medizinische Behandlung notwendig erscheint und der Sozialleistungsträger die Kosten übernimmt.“ In manchen Fällen lässt die Behörde die Behandlungsnotwendigkeit auch erst einmal durch das Gesundheitsamt prüfen, fährt Kothen fort: „Nur wenn das Verwaltungspersonal am Ende grünes Licht gibt, erhält der Geflüchtete einen Behandlungsberechtigungsschein. Manche Sozialämter geben die Scheine quartalsweise aus, bei anderen muss man sie anlassbezogen abholen. Schwierigkeiten, überhaupt Kostenübernahmescheine zu erhalten, gibt es vor allem in den Erstaufnahmeeinrichtungen. Bei den Sozialämtern geht es zum Beispiel um Facharztüberweisungen, die schwer durchsetzbar sind.“
„Nicht Ärzte, sondern Sachbearbeiter auf Sozialämtern beurteilen, ob eine medizinische Behandlung Geflüchteter notwendig ist.“
Gesundheitliche Mangelversorgung dank AsylbLG
Was sind die Folgen dieses Bürokratie-Dschungels? Bereits 2013 kritisierte die Ethikkommission der BundesärztekammerBundesärztekammer Die Bundesärztekammer (BÄK) vereint die 17 deutschen Ärztekammern unter sich. Sie vertritt die berufspolitischen Interessen aller Ärzt*innen in Deutschland und vermittelt den Erfahrungsaustausch zwischen den einzelnen Ärztekammern. Ihr Ziel ist es unter anderem möglichst einheitliche Regeln zur Berufsordnung von Ärzten und Arztinnen herbeizuführen. Sie pflegt Kontakte zur Bundesregierung, zum Bundesrat sowie zu den politischen Parteien.: „Die Gefahr, dass gesundheitliche Risiken falsch eingeschätzt werden, ist hoch, gerade auch bei kranken Kindern. Eigentlich notwendige Behandlungen, die einer Chronifizierung von Krankheitszuständen vorbeugen könnten, werden ggf. unterlassen, was nicht selten irreparable Folgeschäden sowie spätere kostenintensive Behandlungen nach sich zieht“1https://www.aerzteblatt.de/archiv/138061. Bisherige Studienergebnisse stützen das. Werden Gesundheitsprobleme falsch eingeschätzt oder verzögern sich Behandlungen, resultiert das in mehr Notarzteinsätzen, Rettungsfahrten und Notaufnahmen.2https://www.thieme-connect.de/products/ejournals/abstract/10.1055/s-0042-116231 Betroffene müssen Schmerzen, dauerhafte Gesundheitsschäden und möglicherweise tödliche Risiken in Kauf nehmen.
Seit Jahrzehnten belegen das unzählige Einzelschicksale. Beispielsweise verstarb 1995 ein Asylbewerber in Bremen, nachdem er 15 Monate auf eine Entscheidung seiner Sozialbehörde zu einer lebensrettenden LebertransplantationLebertransplantation Bei einer Lebertransplantation wird das geschädigte Organ eines leberkranken Patienten mit Hilfe eines chirurgischen Eingriffs durch eine Spender-Leber (oder durch Teile davon) ersetzt. Eine Lebertransplantation ist zumeist bei akutem oder chronischem Leberversagen – verursacht durch Leberzirrhose und Leberkrebs oder durch angeborene Fehlbildungen und Stoffwechselstörungen – angezeigt. Die Spenderleber kann von einem Verstorbenen stammen und vollständig verpflanzt werden. Bei einer Split-Leber wird das gesunde Organ vorher geteilt und in zwei Empfänger-Patienten eingepflanzt. Auf Grund der Regenerationsfähigkeit des Organs können auch lebende Angehörige einen Teil ihrer Leber spenden. gewartet hatte.3http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/asylblg/Classen_AsylbLG_Verfassung.pdf Ein anderer Asylbewerber starb 2004 in Essen nach zweiwöchigen Schmerzen, da ihm das Sozialamt einen Krankenschein mit der Begründung verweigerte, er müsse das Land „sowieso“ verlassen.4http://fluechtlingsrat-berlin.de/wp-content/uploads/Classen_AsylbLG_Verfassung.pdf In 2011 verwehrten Behördenmitarbeiter der Asylaufnahmestelle in Zirndorf bei Nürnberg einem 15 Monate alten Kleinkind in Lebensgefahr5http://fluechtlingsrat-berlin.de/wp-content/uploads/Classen_AsylbLG_Gesundheit_08Juni2016.pdf über mehrere Stunden hinweg den Notarzt. Nach wochenlangem Koma überlebte es schwerbehindert. In 2014 wies das Hannoversche Kinderkrankenhaus ‚Auf der Bult’ eine Asylbewerberin mit ihrem vier Wochen alten Frühchen trotz dessen akuter Atemprobleme ab. Da die Mutter keinen Krankenschein für ihr Baby vorlegen konnte, verstarb es kurz darauf.6https://www.belltower.news/chronik-zu-angriffen-und-hetze-gegen-fluechtlinge-2014-37176/
Mehr Gesundheit durch Gesundheitskarten
Ein Ende dieser Entscheidungswillkür sollte das im Oktober 2015 in Kraft getretene Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz bringen. Nach ihm können Landesregierungen gesetzliche KrankenkassenKrankenkassen Eine Krankenkasse ist der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Krankenkassen stellen den Versicherten Leistungen zur Verfügung, die nach Vorlage der elektronischen Gesundheitskarte in Anspruch genommen werden können. Die meisten dieser Leistungen sind im SGB V festgeschrieben. Krankenkassen sind organisatorisch sowie finanziell unabhängig und unterstehen der Aufsicht von Bund oder Ländern. Im Gegensatz zu gesetzlichen Krankenversicherungen sind private Krankenversicherungsunternehmen Aktiengesellschaften oder Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (VVaG). dazu verpflichten, elektronische Gesundheitskarten schon vor Ablauf der 18-Monate-Frist auszuhändigen.
Was wie eine winzige Änderung des Verwaltungsablaufs erscheint, hat für Geflüchtete gewaltige Konsequenzen. Denn mit eGK können sie Arztpraxen direkt aufsuchen. Nicht länger entscheiden Verwaltungsmitarbeiter in Sozialbehörden, sondern ärztliches Fachpersonal über ihre Behandlungsbedürftigkeit.
Die Abteilung für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung des Universitätsklinikums HeidelbergHeidelberg Heidelberg ist eine Stadt in Baden-Württemberg. Als bedeutender Universitätsstandort ist sie besonders attraktiv für Wissenschaftler; das DKFZ sowie das EMBL Heidelberg sind dort ansässig. Die Stadt wird vom Neckar durchzogen, bietet eine märchenhafte Schlossruine sowie eine historische Altstadt. fasste die empirischen Auswirkungen in Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Thüringen eingeführter eGK im Juni 2021 zusammen:7http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/30347/9/PolicyBrief_eGK_Gold%2Cetal.pdf Ein statistisch relevanter Einfluss auf die körperliche Gesundheit Geflüchteter fand sich nicht – aus Sicht ärztlicher Fachkräfte erscheint er aber plausibel.8https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0168851018306067?via%3Dihub Die im Bevölkerungsdurchschnitt schlechte psychische Gesundheit von Geflüchteten verbessern eGK dagegen maßgeblich. Wer eine Gesundheitskarte hat, fühlt sich körperlich und mental wohler und das Risiko für Angst und DepressionDepression Die Depression ist eine schwere psychische Erkrankung, die sich durch zahlreiche Beschwerden äußert und in jedem Alter auftreten kann. Niedergeschlagenheit, Erschöpfung, ein Leben ohne Antrieb und Interesse gehören ebenso zur breiten Palette der Symptome als auch körperliche Beschwerden wie Schlaflosigkeit, Appetitstörungen und Schmerzen. Auch die Entwicklung von Suizidgedanken gehört zum Symptomspektrum. Nur wenige können sich selbst helfen, zudem sind Frauen doppelt so häufig von dieser Störung betroffen als Männer. Durch ihr vielfältiges Erscheinungsbild wird die Depression vom Hausarzt oft nicht erkannt. Dabei lässt sie sich mit psychotherapeutischen Behandlungen, wenn nötig auch mit Medikamenten, sehr gut behandeln. schrumpft.9https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/0197918320980413 Außerdem verringern sie die Hürde, zum Hausarzt zu gehen, und resultieren in weniger stationären und Notfallbehandlungen.10https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-020-08981-2 Asylsuchende mit eGK nehmen die medizinische Infrastruktur aber nicht übermäßig in Anspruch. Sie suchen Hausarztpraxen noch immer weniger11https://www.mdpi.com/1660-4601/16/7/1178 bis ebenso häufig12https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-020-08981-2 wie der Bevölkerungsdurchschnitt auf.
Verwaltungs- und Kostenvorteile
Gleichzeitig entlasten eGK die Sozialbehörden. Pro Asyl-Referentin Andrea Kothen fasst zusammen: „Es entfällt nicht nur der Prüf- und Bewilligungsaufwand, sondern auch das Risiko, Fehlentscheidungen zu treffen. Da Einzelfallprüfungen nicht länger notwendig sind, verkürzen sich behördliche Wartezeiten. Gleichzeitig brauchen Arztpraxen individuelle Behandlungsscheine nicht mit einzelnen Sozialleistungsträgern abrechnen, sondern können die etablierten elektronischen Abrechnungsverfahren gesetzlich Krankenversicherter nutzen.“
Zur Frage der Kosten einer Versorgung mit eGK im Vergleich zu Behandlungsscheinen liegen noch keine deutschlandweiten Untersuchungen vor. Laut vereinzelter Studien führen eGK jedoch nicht zu Kostensteigerungen.13http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/30347/ So verbuchte beispielsweise Berlin laut Asylbewerberleistungsstatistik 2008 für die Versorgung nach § 4 und 6 AsylbLG Kosten von 189 € pro Person und Monat. Für AsylbLG-Leistungsberechtigte mit eGK reduzierten sich die Ausgaben auf 109 Euro pro Person und Monat.14http://fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/asylblg/Bremer_Modell_Medizin_AsylbLG.pdf Laut einer Studie in 2021 beeinflussen eGK ambulante Versorgungskosten in Berlin nicht,15https://pub.uni-bielefeld.de/download/2953969/2953970/GottliebOhmKnoernschild_eGK%20in%20Berlin_health%20system%20effects_2021.pdf erhöhen aber die Kosten stationärer Versorgung. In Nordrhein-Westfalen reduzieren sie dagegen die Inanspruchnahme von stationärer und Notfallversorgung.16https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-020-08981-2 Basierend auf Daten des statistischen Bundesamts für 1994 bis 2013 sind die Gesundheitsausgaben pro Kopf für Asylsuchende niedriger, sobald sie auf eGK zurückgreifen können.17https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0131483
Auch auf die Verwaltungsausgaben von Sozial- und Gesundheitsämtern wirken sie sich eher positiv aus. Beispielsweise spart die Hamburger Sozialbehörde dank eGK etwa 1,6 Mio. Euro pro Jahr an Ausgaben für Personal, Ausbildung, IT-Software und Räumlichkeiten.18https://www.hamburg.de/contentblob/4465734/2b6390d955d620e7208827deda3f4fd1/data/gesundheitsversorgung-auslaender.pdf
Gesundheitskarten ja, bundesweit nein
Kurzum: Elektronische Gesundheitskarten gewähren Geflüchteten einen Zugang zum deutschen GesundheitssystemGesundheitssystem Das deutsche Gesundheitssystem ist ein duales Krankenversicherungssystem bestehend aus der GKV (Gesetzlichen Krankenversicherung) und der PKV (private Krankenversicherungen). Seit der Gesundheitsreform 2007 muss jeder, der in Deutschland seinen Wohnsitz hat, eine Krankenversicherung haben. Wichtig ist zudem das Prinzip der Selbstverwaltung und der Sachleistung. D.h. Krankenkassen erfüllen die ihnen gesetzlich übertragenen Aufgaben in eigener Verantwortung. Es existiert eine gemeinsame Selbstverwaltung der Leistungserbringer und Kostenträger. Wichtigstes Organ hierbei auf Bundesebene ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA)., der unkompliziert und diskriminierungsarm ist. Gleichzeitig bauen sie den Verwaltungsaufwand ohne Kostensteigerungen ab. In Anbetracht des Leids, das Geflüchtete erlebt haben, fordern Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen sowie Ärzteverbände bis hin zur Bundesärztekammer seit Jahren ihre flächendeckende Einführung. Erst Ende Mai 2022 sprach sich der 126. Deutsche Ärztetag für eine rasche Zuteilung von eGK an alle Geflüchteten aus.19https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/BAEK/Aerztetag/126.DAET/2022-06-17_Beschlussprotokoll.pdf
Doch politische Entscheidungsträger stimmen dem nicht immer zu. Die Landesregierungen von Bremen und Hamburg führten Gesundheitskarten für AsylbLG-Leistungsempfänger bereits vor zehn Jahren ein. Berlin, Schleswig-Holstein und Thüringen beschlossen zwischen 2015 und 2017 obligatorische Rahmenvereinbarungen mit den jeweiligen Krankenkassenverbänden. In Brandenburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfahlen und Rheinland-Pfalz existieren dagegen optionale Rahmenverträge seit 2016. Jede Kommune, jeder Landkreis und jede kreisfreie Stadt entscheiden dort für sich, ob sie dem Rahmenvertrag beitreten und eGK einführen.
Da viele Kommunen erhöhte Gesundheitsausgaben und Verwaltungskosten befürchten, entscheiden sie sich oft dagegen. So sind in NRW beispielsweise gegenwärtig 22 von 396 Kommunen beigetreten, in Brandenburg 17 von 18 Landkreisen. Bayern und Sachsen außer Dresden sprachen sich hingegen komplett gegen eine Gesundheitskarte für Asylbewerber aus. In Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern sind entsprechende Verhandlungen ausgesetzt. Auch Hessen, Saarland und Sachsen-Anhalt haben nach längeren Verhandlungen in 2015 keine Rahmenvereinbarungen verabschiedet.
Sind derzeit 830.000 Geflüchtete aus der Ukraine Anlass genug, elektronische Gesundheitskarten bundeseinheitlich einzuführen?
Nein, Schutzbedürftige aus der Ukraine werden auf Grundlage der EU-Massenzustrom-Richtlinie 2001/55/EG seit 1. Juni 2022 direkt in die reguläre gesetzliche Krankenversicherung eingegliedert. Im Bedarfsfall erhalten sie also nicht die reduzierten Leistungen nach AsylbLG, sondern haben Anspruch auf Leistungen nach Sozialgesetzbuch, also Sozialhilfe beziehungsweise Hartz-VI Leistungen. Für alle anderen Asylbewerber ändern diese Sonderregelungen nichts.
De facto existiert innerhalb der Bundesländer somit ein Flickenteppich unterschiedlicher kommunaler Regelungen. Flächendeckend sind Gesundheitskarten für Asylsuchende nur in den drei Stadtstaaten, in Schleswig-Holstein und in Thüringen eingeführt. Im Rest von Deutschland müssen Geflüchtete je nach Landkreis weiterhin Krankenscheine bei Sozialbehörden beantragen. Entweder haben sie Glück und landen in einer juristisch kompetenten Arztpraxis einer liberalen Kommune meist linksgeführter Länder – oder eben nicht. Der Zufall entscheidet weiterhin über ihre Gesundheit.
Redaktion: Nicola Kuhrt, Marie Eickhoff, Nicole Hagen
- 1https://www.aerzteblatt.de/archiv/138061
- 2https://www.thieme-connect.de/products/ejournals/abstract/10.1055/s-0042-116231
- 3http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/asylblg/Classen_AsylbLG_Verfassung.pdf
- 4http://fluechtlingsrat-berlin.de/wp-content/uploads/Classen_AsylbLG_Verfassung.pdf
- 5http://fluechtlingsrat-berlin.de/wp-content/uploads/Classen_AsylbLG_Gesundheit_08Juni2016.pd
- 6https://www.belltower.news/chronik-zu-angriffen-und-hetze-gegen-fluechtlinge-2014-37176/
- 7http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/30347/9/PolicyBrief_eGK_Gold%2Cetal.pdf
- 8https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0168851018306067?via%3Dihub
- 9https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/0197918320980413
- 10https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-020-08981-2
- 11https://www.mdpi.com/1660-4601/16/7/1178
- 12https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-020-08981-2
- 13http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/30347/
- 14http://fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/asylblg/Bremer_Modell_Medizin_AsylbLG.pdf
- 15https://pub.uni-bielefeld.de/download/2953969/2953970/GottliebOhmKnoernschild_eGK%20in%20Berlin_health%20system%20effects_2021.pdf
- 16https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-020-08981-2
- 17https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0131483
- 18https://www.hamburg.de/contentblob/4465734/2b6390d955d620e7208827deda3f4fd1/data/gesundheitsversorgung-auslaender.pdf
- 19https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/BAEK/Aerztetag/126.DAET/2022-06-17_Beschlussprotokoll.pdf