In Deutschland gilt der Grundsatz freier Arztwahl. Wo es keinen Ärztemangel gibt, stehen Praxen miteinander im Wettbewerb um neue Patient:innen. Da liegt es nahe, sich in der Außendarstellung gegenüber Mitbewerber:innen hervorzutun, zum Beispiel durch ein Ärztesiegel. Doch der Grat zwischen Vertrauen erwecken und Irreführung ist schmal, das zeigt ein aktuelles Urteil zur FOCUS-Ärzteliste.
Seit mehr als 20 Jahren verleiht das Magazin FOCUS das Siegel „TOP-Mediziner“. Das Ärztesiegel soll Mediziner:innen auszeichnen, die angeblich herausragend sind. Das Landgericht München I hat der Werbung mit diesem und einem anderen Siegel, das auf der Ärzteliste von FOCUS Gesundheit basiert, nun einen Riegel vorgeschoben.1LG München I, Urteil vom 13.02.2023 – Az. 4 HKO 14545/21 (noch nicht rechtskräftig); https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/Y-300-Z-GRURRS-B-2023-N-1623, abgerufen am 13.03.2023
Die Begründung: Die Ärztesiegel seien irreführend, weil ihnen keine sachgerechte Prüfung nach objektiv nachvollziehbaren Kriterien zugrunde liege. Das Gericht beanstandete besonders, dass die vermeintlichen Bestenlisten auf subjektiven Elementen wie etwa Empfehlungen von Kolleg:innen beruhten: „Das vermeintlich durch das Siegel objektivierte Qualitätsurteil ist in Wahrheit ein rein subjektives, das von vielen durch Ärzte und ihre Leistungen nicht beeinflussbare Faktoren abhängt“, so die Bewertung der Richter:innen.
Was ist irreführende Werbung?
Nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb sowie den Berufsordnungen der Landesärztekammern ist irreführende Werbung verboten. Eine Irreführung liegt beispielsweise dann vor, wenn unwahre oder zur Täuschung geeignete Angaben über die Vorteile einer Dienstleistung oder über die Ergebnisse von Tests gemacht werden.2§ 5 Absatz 2 Nummer 1 UWG Für dieses Verbot genügt es schon, wenn ein Prüfsiegel grundsätzlich dazu geeignet ist, Patient:innen zu täuschen. Ob sich aufgrund des Siegels tatsächlich jemand dazu entschieden hat, den vermeintlichen TOP-Mediziner aufzusuchen, ist rechtlich nicht relevant.
Wie misst man Behandlungsqualität?
Nach dem Urteil ergibt sich die Frage: Was ist Behandlungsqualität und kann man sie überhaupt messen? Aus nüchterner juristischer Sicht schuldet eine Ärztin ihrem Patienten keinen Heilungserfolg, sondern „nur“ eine Behandlung nach den allgemein anerkannten fachlichen Standards.3§ 630a Absatz 2 BGB
Eine Behandlung kann also qualitativ einwandfrei sein, auch wenn der Patient durch sie nicht geheilt wird. Gleichzeitig kann sie trotz bewirkter Heilung Qualitätsmängel aufweisen, wenn sie zum Beispiel inhuman oder nicht empathisch ist. Während sich noch überprüfen lässt, ob Ärzt:innen nach fachlichen Standards behandeln, nehmen Patient:innen Menschlichkeit und Empathie behandelnder Ärzt:innen unterschiedlich wahr.
Bereits an diesem Punkt zeigt sich, dass die Qualität ärztlicher Leistungen nur schwer messbar ist. Der FOCUS drückt dieses Dilemma auf seiner Internetseite so aus: „Medizinische Qualität ist nicht in jedem Detail erfassbar.“ Das hindert FOCUS aber nicht daran, die Qualität der Behandelnden trotzdem zu bewerten.
Was zeichnet ein legales Siegel aus?
Die Rechtsprechung setzt für die Werbung mit Gütesiegeln voraus, dass eine neutrale Stelle mit entsprechender Fachkompetenz das Produkt oder Unternehmen nach objektiven und aussagekräftigen Kriterien prüft, sowohl vor als auch nach Vergabe des Siegels.4BGH, Urteil vom 04.07.2019 – Az. I ZR 161/18 Die Methoden des Prüfprozesses müssen transparent und allgemein zugänglich sein.5OLG Düsseldorf, Urteil vom 09.07.2020 – Az. 20 U 123/17
Gerichte wiederum beurteilen, ob eine Prüfstelle neutral und deren Ergebnisse verlässlich sind. Unproblematisch scheint es zu sein, wenn die Nutzer:innen der Siegel Lizenzgebühren zahlen. Immerhin kostet das Recht, das FOCUS-Siegel zu verwenden, im ersten Jahr 1.900 Euro netto.
Der BundesgerichtshofBundesgerichtshof Der BGH, der Bundesgerichtshof ist das oberste Gericht in Deutschland und die letzte Instanz im Bereich der Zivil- und Strafrechtspflege und hat seinen Sitz in Karlsruhe. Der BGH befindet sich in der Trägerschaft des Bundes. Oberstes Ziel ist die Sicherung der Rechtseinheit und die Klärung grundsätzlicher Fragen. Der BGH prüft Entscheidungen der vorgeschalteten Gerichte in der Regel ausschließlich auf Rechtsfehler. Die Rechtspraxis des Zivilrechtes orientiert sich in den meisten Fällen an den Entscheidungen des Bundesgerichtshofes. betont aber sinngemäß: Wenn das Nutzungsrecht an dem Siegel gegen Entgelt eingeräumt wird, ist das berechtigte Interesse des Verbrauchers an den Prüfkriterien umso größer.6BGH, Urteil vom 21.07.2016 – Az. I ZR 26/15 Soll heißen: Kommerzielle Siegelvergabe ja, aber dann bitte auch transparent.
Wie der Burda-Verlag mit Ärztesiegel „TOP-Mediziner“ kürt
Nach Daten der BundesärztekammerBundesärztekammer Die Bundesärztekammer (BÄK) vereint die 17 deutschen Ärztekammern unter sich. Sie vertritt die berufspolitischen Interessen aller Ärzt*innen in Deutschland und vermittelt den Erfahrungsaustausch zwischen den einzelnen Ärztekammern. Ihr Ziel ist es unter anderem möglichst einheitliche Regeln zur Berufsordnung von Ärzten und Arztinnen herbeizuführen. Sie pflegt Kontakte zur Bundesregierung, zum Bundesrat sowie zu den politischen Parteien. gibt es in Deutschland etwa 416.000 berufstätige Ärztinnen und Ärzte. Aus dieser Grundgesamtheit identifiziert FOCUS zusammen mit FactField eine Gruppe von 75.000 besonders qualifizierten Mediziner:innen. Das sind solche, die etwa habilitiert oder Chefärzt:in sind oder andere Ärzt:innen weiterbilden dürfen. FactField nennt sich selbst Recherche-Institut und gehört – wie FOCUS auch – zum Burda-Verlag.7https://factfield.de/ueberuns, abgerufen am 18.02.2023
Diese Auswahl grenzen die Redaktionen von FOCUS und FactField weiter ein. Dafür berücksichtigen sie beispielsweise wissenschaftliche Veröffentlichungen und Qualifikationen, etwa welchen oder wie viele Facharzt-Titel die Mediziner:innen tragen. Nach dieser Runde bleiben noch rund 30.000 potentielle Kandidat:innen für die spätere Bestenliste übrig.8https://focus-arztsuche.de/ueber-uns/siegel/top-mediziner, https://factfield.de/health/topmediziner/, jeweils abgerufen am 18.02.2023
Und jetzt wird es spannend: Die Auserwählten werden vom Verlag angeschrieben. Sie erhalten einen Fragebogen mit 366 Feldern zur Selbstauskunft. Darin können die Behandelnden „ihr Engagement in Wissenschaft, Lehre und Forschung“ angeben. Außerdem können sie Kolleg:innen aller Fachbereiche empfehlen, von denen sie sich selbst behandeln lassen würden. Diese Befragung ist nach Angaben von FactField das „Herzstück der FOCUS-Ärzteliste“.
Laut FOCUS gilt die wechselseitige Beurteilung unter Kolleg:innen in der Wissenschaft als zuverlässiges und gängiges Kriterium. Gemeint ist wohl das „Peer-Review-Verfahren“ zur Bewertung wissenschaftlicher Arbeiten durch Wissenschaftler:innen desselben Fachgebiets. Bei der Ärzteliste geht es aber nicht um die Bewertung wissenschaftlicher Veröffentlichungen, sondern um die Qualität der Arbeit am Menschen. Außerdem empfehlen die Befragten auch Mediziner:innen anderer Fachbereiche. Mit einem Peer-Review hat das nicht viel zu tun.
Die gesammelten Informationen ordnet FactField den fünf Empfehlungskriterien Behandlungsleistung, Qualifikation, wissenschaftliches Engagement, Patientenservice und Reputation zu und errechnet daraus für jede:n Mediziner:in eine Gesamtpunktzahl. Mit dieser stellt FOCUS die Liste der „TOP-Mediziner“ zusammen, auf der aktuell rund 4.200 Behandelnde aus 122 Fachbereichen stehen.
Dürftige Beteiligungsquote: nur 19 % der Befragten antworten
Dieses methodische Vorgehen wirft Fragen auf – zum Beispiel nach der Zahl derjenigen Ärzt:innen, die überhaupt auf das Anschreiben mit einer Selbstauskunft reagierten. Nach öffentlichen Angaben des FOCUS lieferten die Befragungen 26.319 „Ärzteempfehlungen durch qualifizierte Mediziner“.
MedWatch wollte von FactField wissen, aus wie vielen Selbstauskünften sich diese Zahl zusammensetzt. Die Antwort: Es wurden die Empfehlungen aus zwei Jahren von jeweils etwa 5.600 Befragten verwendet. Pro Jahr hat demnach nur etwa jede:r fünfte Kandidat:in auf das Anschreiben des FOCUS reagiert. Neben deren Antworten hat FactField auch Daten des Ärzteportals Jameda genutzt, diese allerdings geringer gewichtet.
Nach den Recherchen von MedWatch landeten von den 5.600 Auskunftswilligen über 3.000 selbst auf der TOP-Mediziner-Liste. Wie viel dies damit zu tun hat, dass die Kandidat:innen neben den Auskünften gleichzeitig auch ihr Interesse an einer kostenpflichtigen Siegel-Lizenz kundtaten, bleibt ein Geheimnis. Laut Burda-Verlag erhielten aber immerhin über 1.000 Ärzt:innen die „Auszeichnung”, ohne dass dies auf eine Auskunft in eigener Sache zurückzuführen war.
Und wie machen es die anderen Ärztesiegel?
Das Hamburger Unternehmen hinter dem „Qualitätssiegel Praxis+Award“ rühmt sich damit, die „Initiative zur Verbesserung des Patientenservices in deutschen Arztpraxen“ ins Leben gerufen zu haben. Wie die Siegelvergabe der Initiative funktioniert, erklären YouTube-Clips, die auf den Internetseiten des Anbieters eingebunden sind.
Darin interviewt n-tv-Moderatorin Annika de Buhr den Praxis+Award-Geschäftsführer Thomas Neef. Er betont, dass der Mediziner für sein Ärztesiegel aktiv etwas tun müsse und objektiv von Dritten überprüft werde. Der große Unterschied zu anderen Qualitätssiegeln am Markt sei, dass man sich bewerben müsse und es nicht kaufen könne.
Zumindest Ersteres stimmt beim genauen Blick ins Kleingedruckte nicht: Laut Teilnahmebedingungen können Praxen auch ohne eigene Bewerbung durch Empfehlungen von Partnerfirmen oder „eigene Recherchen“ des „Praxis+Initiativbüros“ teilnehmen.
Bewertet das Initiativbüro eine Empfehlung oder Bewerbung positiv, nominiert es die Arztpraxis für die Teilnahme am Prüfverfahren. Nominierte Praxen dürfen nun einen Online-Fragebogen mit mehr als 120 Fragen über die eigene Tätigkeit ausfüllen. Das von der Rechtsprechung gescholtene Selbstauskunftsverfahren kommt also auch bei diesem Prüfsiegel zum Einsatz.
Im nächsten Schritt prüft der externe Auditor ACERT die von den Ärzt:innen eingereichten Antworten und Dokumente – Zitat Thomas Neef – „rein faktisch rational“. Kriterien sollen dabei die fünf Kompetenzbereiche Praxiskommunikation, Patientenansprache, Mitarbeiterentwicklung, Medieneinsatz und soziales Engagement sein.
Praxis+Award – andere Kriterien, gleiche Schwächen
Die Urheber des Praxis+Awards wollen nicht mit dem FOCUS in einen Topf geworfen werden. Sie betonen auf Anfrage von MedWatch, dass ihr Qualitätssiegel nicht die fachliche Kompetenz von Medizinern auszeichne, sondern die „Leistungsfähigkeit von Praxen im Bezug auf den Patientenservice“. Gemeint sind damit die fünf genannten Soft-Skill-Bereiche. Diese spielen für Patient:innen bei der Arztsuche gewiss eine Rolle. Aber wie viel ist Patientenservice ohne das wichtigste Qualitätskriterium medizinischer Leistungen, eine Behandlung nach anerkannten fachlichen Standards, wert? Soziales Engagement einer Praxis hilft Patient:innen nicht, wenn die Behandelnden vom Facharztstandard abweichen und dadurch womöglich Behandlungsfehler begehen.
Ein weiteres Grundproblem kommt auch im Falle des Praxis+Awards hinzu: Die Selbsteinschätzung eines Arztes oder einer Ärztin ist kein objektives Kriterium, wie es die Rechtsprechung von einem Gütesiegel verlangt.
Darüber hinaus verzerrt dies unter Umständen die Aussagekraft der ärztlichen Antworten. Denn am Ende des Prüfverfahrens steht das konkrete Ziel, die „Auszeichnung“ verliehen zu bekommen. Auf die Anfrage von MedWatch, in wie vielen Fällen Arztpraxen bei der Prüfung – Zitat Thomas Neef – „eiskalt durchfallen“ und das begehrte Ärztesiegel nicht erhalten, nannte das Unternehmen eine Quote von rund fünf Prozent.
Haben die teilnehmenden Ärzt:innen schließlich ihr Ziel erreicht und erhalten den Praxis+Award, müssen sie für die Nutzung im ersten Jahr eine Lizenzgebühr von 690 Euro zahlen. Auch wenn dieses Ärztesiegel damit günstiger ist als sich für 1.900 Euro „TOP-Mediziner“ nennen zu dürfen: Es ist noch immer viel Geld für einen Wettbewerbsvorteil, an dessen Gerichtsfestigkeit man angesichts der jüngeren Rechtsprechung durchaus zweifeln kann.
Weitere Ärztesiegel auf dem Prüfstand?
Das von der Wettbewerbszentrale erwirkte Urteil des Landgerichts München I gegen Burda ist zwar noch nicht rechtskräftig, denn der Verlag hat Berufung eingelegt. Das Urteil befindet sich aber in guter Gesellschaft. Vor wenigen Jahren fällte bereits das Oberlandesgericht Köln eine ähnliche Entscheidung zu einem anderen Gütesiegel: „Die Selbstauskunft genügt der Erwartung der angesprochenen Verkehrskreise an die objektive Prüfung der für die Vergabe erforderlichen Kriterien nicht“, so die Auffassung der Richter:innen.9OLG Köln, Beschluss vom 10.01.2018 – Az. 6 U 151/17
Solange Patient:innen die freie Arztwahl haben und Praxen miteinander im Wettbewerb stehen, wird auch in Zukunft die Werbung mit medizinischen Siegeln Gerichte beschäftigen. Die gute Nachricht: Der Kreativität geschäftstüchtiger Verlage sind dort Grenzen gesetzt, wo Patient:innen bei der Arztsuche durch nicht aussagekräftige Ärztesiegel in die Irre geführt werden.
Redaktion: Sigrid März, Angela Bechthold, Nicole Hagen
- 1LG München I, Urteil vom 13.02.2023 – Az. 4 HKO 14545/21 (noch nicht rechtskräftig); https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/Y-300-Z-GRURRS-B-2023-N-1623, abgerufen am 13.03.2023
- 2§ 5 Absatz 2 Nummer 1 UWG
- 3§ 630a Absatz 2 BGB
- 4BGH, Urteil vom 04.07.2019 – Az. I ZR 161/18
- 5OLG Düsseldorf, Urteil vom 09.07.2020 – Az. 20 U 123/17
- 6BGH, Urteil vom 21.07.2016 – Az. I ZR 26/15
- 7https://factfield.de/ueberuns, abgerufen am 18.02.2023
- 8https://focus-arztsuche.de/ueber-uns/siegel/top-mediziner, https://factfield.de/health/topmediziner/, jeweils abgerufen am 18.02.2023
- 9OLG Köln, Beschluss vom 10.01.2018 – Az. 6 U 151/17