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Hinter der Protein-Fassade Warum MORE und ESN so erfolgreich sind

Leuchtender Bildschirm eines Handys, auf welchem gerade eine unbekannte Nummer anruft.
Die Marketing-Strategien bei More Nutrition sind nicht nur für die Nutzer:innen bedenklich. Auch die mit der Firma kooperierenden Influencer:innen müssen mit Folgen rechnen. © rcphotostock / canva.com

Kein Heißhunger mehr, keine Diäten, „More heißt: Nie wieder verzichten.“ So verkauft die Fitnessmarke More Nutrition unter anderem Süßungspulver, zuckerfreien Sirup und Protein-Chips. Die Marke ist Teil einer erfolgreichen Gruppe aus Fitnessfirmen, die den internationalen Markt erobern möchte. MedWatch hat die Hersteller über Wochen beobachtet und bedenkliche Strategien gefunden, die aus Social Media in die Realität ragen.

Am Anfang klingt alles noch wie eine gescriptete Reality TV-Show: Beziehung, Verlobung, Kinderwunsch-Klinik, schwanger, getrennt, fremd gegangen? Christian Wolf und Antonia Zimmermann waren die einflussreichsten Gesichter von More Nutrition. Vor zwei Wochen hat Christian Wolf plötzlich alle Beiträge auf Social Media gelöscht und sich „mit sofortiger Wirkung vollumfänglich aus dem Geschäft zurückgezogen“, wie es in einem Statement der „The Quality Group“ heißt. Wegen ein bisschen Familiendrama? Nein, es geht um viel mehr, wie diese MedWatch-Recherche zeigt.

Gespräche mit mehr als einem Dutzend Menschen zeichnen ein Bild von Strategien, die über Jahre gewachsen sind. Die meisten Gesprächspartner:innen werden in diesem Artikel nicht namentlich erwähnt, weil sie Angst haben oder nicht öffentlich über die Firma sprechen dürfen. MedWatch liegen jedoch Chatverläufe, eidesstattliche Versicherungen, Gerichtsurteile und andere Beweise vor, die ihre Aussagen stützen.

Papa mit dem Pilotenkoffer

Um die Geschichte von More Nutrition (im Folgenden MORE genannt) zu verstehen, lohnt es sich, an den Anfang zurückzugehen. MORE war die Idee von Christian Wolf. Mit gerade 22 Jahren hat er die Firma in Regensburg gegründet und in den vergangenen sechs Jahren groß gemacht. Dabei immer an seiner Seite: sein Vater.

Jochen Wolf hat Erfahrungen mit großen Geschäften, leitet ein Beteiligungsunternehmen und hat etwa beim Unternehmensberater McKinsey gearbeitet. „Kannst du dich noch daran erinnern, als ich mit meinem Vater bei dir aufgekreuzt bin?“, fragt Christian Wolf seinen Mitgründer Michael Weigl in einem Video-Podcast1https://www.youtube.com/watch?v=yBNqT1p1de4. „Ich werd’s nicht vergessen“, antwortet dieser. „Der Papa mit dem Pilotenkoffer, großartig. Ich glaube, der Professionellste von uns dreien war dein Papa.“ Weigl, der damals YouTuber und Onlinehändler für Fitnessprodukte ist, steigt spontan ins Geschäft ein. Ebenfalls seit Beginn ist Wolfs Mutter Angelika Wolf dabei und auch eine jüngere Frau mit gleicher Adresse, Kim Carina Wolf, hält zumindest laut Gesellschafterliste vom 17. Mai 2021 noch Anteile an der Firma.

Die Werbe-Strategie von More Nutrition

Er behauptet, jede und jeder könne mit seinen Produkten und einigen gesunden Routinen einfach abnehmen und in Form bleiben. „Wenn du gut aussehen möchtest, ohne viel Lifestyle-Aufwand – that’s it”, verspricht er seinen Follower:innen. „Mach die Dinge und du wirst überdurchschnittlich gut aussehen.” So vermitteln es auch die anderen Gesichter, die für die Marke werben.

MOREs Zielgruppe ist weiblich. „Wir haben so 80 bis 85 Prozent Frauen, Alter 15 bis nach oben eigentlich unbegrenzt“, sagt Christian Wolf im Live-Talk2https://www.youtube.com/watch?v=i559zcPrTIY mit der Marketing-Plattform OMR. Viele der Frauen seien rund 25 bis 40 Jahre alt. Sie wollen einen fitten Lifestyle – genau wie die MORE-Influencer:innen ihn vorleben. Alleine Antonia Zimmermann folgen fast zwei Millionen Menschen auf Instagram und TikTok. Und noch reichweitenstärkere Accounts wie von Rezo, Stefano Zarella oder twenty4tim verwenden die MORE-Produkte auf ihren Profilen und teilen Rabattcodes.

Mehr Marken und mehr Geld

In den vergangenen Jahren hat sich das Unternehmen verändert, ist gewachsen. More Nutrition gehört mittlerweile zu „The Quality Group GmbH“ (TQG), unter deren Dach insgesamt sieben Marken verschmolzen sind: Got7, VAYU, foodist, SYNERGY, Fitmart, MORE und ESN. Die vor MORE größte Marke in diesem Verbund ist ESN, die vor allem Proteinprodukte verkauft und sich ursprünglich an die Bodybuilder-Szene richtete. Im vergangenen Jahr stieg dann Finanzinvestor CVC Capital Partners ein und erwarb Mehrheitsanteile an TQG, laut eigenen Angaben 81 Prozent.

Strukturelle Gliederung des Firmengeflechts von More Nutrition.
Alleinige Gesellschafterin von „The Quality Group” ist „Asteric AcquiCo GmbH”. Deren Gesellschafterin ist „Asterix HoldCo GmbH” und deren Gesellschafterin „Asterix Investments S.à.r.l.” mit Geschäftsführerin Georgia Oikonomitsiou, die Managerin bei CVC ist. Das Konstrukt dient wahrscheinlich der Abwicklung.
© Collage Marie Eickhoff / canva.com

CVCs Ziele: die Firmengruppe internationaler und noch erfolgreicher machen und auf einen sogenannten Exit vorbereiten. Sprich, dass die Firma mit ihren Marken zum Beispiel gewinnbringend verkauft wird. Das sagte TQG-Geschäftsführer Stefan Smalla im Interview mit OMR.3https://www.youtube.com/watch?v=i559zcPrTIY

Dafür hat TQG mehr als einhundert Stellen ausgeschrieben – in Deutschland, aber auch in Amsterdam und London. Zunächst müssten nun die Firmenstrukturen verbessert werden, sagt Smalla. Teilweise seien Produkte an Aktionstagen nach drei Minuten ausverkauft gewesen – kein besonders gutes Aushängeschild für einen potenziellen Global Player. Der Firma scheint es aber bislang nicht zu schaden. „Mit einem Jahresumsatz von zuletzt 450 Millionen Euro ist The Quality Group auf einem starken Wachstumskurs“, heißt es auf Nachfrage.

Kund:innen in die Falle gelockt

Ihre Kund:innen erreicht TQG vor allem über Influencer-Marketing. Alleine MORE arbeitet mit mehr als einhundert Influencer:innen zusammen. Sie akquirieren neue Kunden und verdienen selbst größtenteils nur per Rabattcode. Nach einem Vertragsmuster für MORE-Influencer:innen, das MedWatch vorliegt, gehen bei Nutzung des Rabattcodes zehn Prozent an den Influencer oder die Influencerin. Verständlich, dass sie eine besonders enge Bindung zu ihrer Community pflegen.

Psychologisch wirkt dabei das Prinzip von Freundschaft. Die Influencer-Person schafft Vertrauen, indem sie beispielsweise täglich ihren Alltag zeigt, eigene Erfahrungen mit gestörtem Essverhalten teilt und auf persönliche Nachrichten antwortet. Dadurch wird sie gefühlt zur Freundin und die Community zur digitalen Clique. Das Marketing ist so effektiv, dass Kund:innen teilweise emotional abhängig von der Marke und den Produkten werden.

Macht das System MORE abhängig?

Nach einem Aufruf bei Instagram bekommt MedWatch mehr als 200 Nachrichten, fast nur von Frauen. Sie beschreiben, welche Folgen die Abhängigkeit für sie hat. Sie hätten Hobbys und Freunde vernachlässigt und Schulden in Kauf genommen: „Ich war kurz vor dem finanziellen Ruin, weil ich so einen Drang hatte, ständig alles kaufen zu müssen. Das einzige MORE, das ich dann am Ende hatte, waren MORE Geldprobleme“, schreibt eine MORE-Kundin.

Andere berichten von gesundheitlichen Folgen oder davon, dass sich ihr Essverhalten negativ verändert habe und sie jetzt professionelle Hilfe benötigen: „Ich habe dann in einer therapeutischen Wohngruppe für Frauen mit Essstörungen gelebt und wir durften das More-Wort nicht mehr benutzen.“ Und: „Tatsächlich arbeite ich gerade mit einem Therapeuten daran, wieder ein normales Leben zu haben.  […] Meine Eltern haben mich dazu gezwungen, weil ich nicht mehr normal essen konnte ohne Fitnessprodukte.”

MORE-Marketing – exklusiv abhängig 

Influencer:in für eine Fitnessmarke zu sein, ist für viele Menschen erstrebenswert. Es scheint leicht verdientes Geld; mitunter können die Blogger:innen die Produkte kostenlos nutzen. Aber vor allem MORE und TQG verdienen gut an dem Geschäft, ohne allzu viel ins Marketing investieren zu müssen.

Eigene Coachinggruppen bereiten Hunderte junge Menschen darauf vor, Influencer:in für TQG zu werden. Eine Aussteigerin berichtet, dass es in diesen Gruppen wöchentliche Challenges gibt. Wer die Woche über den besten Job macht, gewinnt. Der Gewinn ist ein 10 Euro-Gutschein und die wachsende Hoffnung, irgendwann vielleicht in das Influencer-Team von ESN oder MORE aufgenommen zu werden. In manchen Wochen kann es sein, dass bis zu 1.000 Menschen gleichzeitig für die Produkte werben, ohne dass die Firma dafür zahlen muss.

Um sich die Exklusivität der Influencer:innen zu bewahren, schreibt TQG vertraglich fest, dass sie nicht parallel für Konkurrenzfirmen werben dürfen. Diese Verpflichtung musste auch die Aussteigerin der ESN-Coachinggruppe anfangs unterschreiben. Ein Vertragsmuster von MORE ist Gegenstand mehrerer Gerichtsentscheidungen. Ein Brancheninsider schreibt MedWatch: „Nach meiner Ansicht ist das dort verwendete Vertragsmuster sittenwidrig, weil es eine strukturell einseitige Benachteiligung des Influencers enthält.“

Influencer hätten die Ausübung der Meinungsfreiheit zum Beruf gemacht, schreibt der Insider. Ein Influencer, der mitunter gegen seinen Willen zur Werbung verpflichtet würde und nur aus wichtigem Grund kündigen könne, laufe Gefahr, seine Authentizität und damit Follower sowie seinen Werbewert zu verlieren. „Er wird nach meiner Meinung insofern seiner Grundrechte beraubt und zur Marionette des Werbeträgers.“ Für die Nichtigkeit eines Vertrags wegen Sittenwidrigkeit gibt es jedoch strenge Anforderungen. Das Oberlandesgericht Karlsruhe ist dieser Argumentation daher ebenso wie das erstinstanzliche Gericht nicht gefolgt. Aber: „Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes (III ZR 205/22) dazu steht noch aus.“

Expandieren, Influencer:innen für sich arbeiten lassen, Abhängigkeiten schaffen – die Pläne schienen aufzugehen. Christian Wolf als das Gründer-Gesicht von MORE, warb weiter und stärkte die Marke.

Nachdem CVC ins Geschäft eingestiegen war, reinvestierten alle Gesellschafter erneut in die Firma. Benjamin Burkhardt von ESN und Christian Wolf von MORE erhöhten ihre Beteiligung als Gesellschafter und blieben operativ im Unternehmen tätig – bis jetzt.

Christian Wolf verlässt MORE

Vor zwei Wochen verschwand Christian Wolf aus den sozialen Medien und gab offenbar auch alle Funktionen in der Firma auf. Auf Nachfrage schreibt TQG-Geschäftsführer Stefan Smalla: „Christian Wolf ist nicht bei The Quality Group angestellt, erhält kein Gehalt und hat keine Entscheidungsbefugnisse oder Aufgaben mehr im Unternehmen. Der Beratervertrag mit ihm ist gekündigt.” Er habe keinerlei Mitspracherechte mehr und könne auch nicht mehr im Namen der Marke MORE offiziell in der Öffentlichkeit auftreten. „Christian Wolfs bisherige Aufgaben und Verantwortlichkeiten innerhalb des Unternehmens werden in den nächsten Tagen und Wochen neu verteilt.“ Seine Rabattcodes würden deaktiviert. Auch über seine Mailadresse bei MORE ist er nicht mehr erreichbar. Er sei zwar nach wie vor Teil einer Gruppe von Minderheitsinvestoren, die jedoch keinerlei Kontrollrechte haben, aber regelmäßig über die Geschäftsentwicklung informiert würden. „Das Unternehmen hat keine Dividendenpolitik, insofern erhält Christian Wolf keine laufende Gewinnausschüttung auf Basis seiner Beteiligung an der Gesellschaft.“

Er scheint also wirklich komplett raus zu sein. Zum Grund für die Trennung heißt es seitens TQG: „Christian Wolf hat am 5. September selbst in einer Nachricht an unsere Influencer-Community geschrieben, dass er den Erfolg von More nicht durch Diskussionen um seine Person beeinträchtigen wolle.“

Es grummelt in der Community – aber: Kritik unerwünscht

Und Diskussionen gibt es einige. Es begann mit Wolfs Trennung von Mit-Influencer:in und Verlobten Antonia Zimmermann, die gerade von Wolf schwanger geworden war. Schlagzeilen machten zudem die „More Days“, ein Live-Event für die Fans der Marke. Follower:innen kritisierten, dass die Veranstaltung schlecht organisiert gewesen sei und sie zum Beispiel eine halbe Stunde anstehen mussten, um Trinkwasser zu bekommen.

Kritik an MORE ist nichts Neues. Auch MedWatch hat den Hersteller schon für unwissenschaftliche Versprechen kritisiert und die Verbraucherzentrale hat sie mehrfach abgemahnt.4https://www.lebensmittelklarheit.de/news/angebliches-melatonin-wundermittel-anbieter-lenkt-ein

Bislang konnten Christian Wolf, seine Marke und das Mutterunternehmen TQG, aber immer nahezu genau so weitermachen wie zuvor. Warum?

Wer kritisiert, wird eingeschüchtert. In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Influencer:innen und auch Privatpersonen, die sich kritisch geäußert haben, zum Teil mit Klarnamen im Internet bloßgestellt. Mehrere Menschen berichten uns, dass sie öffentlich angeprangert wurden – meistens in Storys und Videos von Christian Wolf.

Er nutzte auch die Macht seiner Community: Eine Zeitlang belohnte er Anhänger, die Kritikern besonders fleißig widersprachen, mit Gewinnen. Die Marginalisierung kritischer Stimmen ist auch heute noch bei MORE zu beobachten. Wer unter Beiträgen von MORE kommentiert, kann Wert-Gutscheine gewinnen. In der Masse von mehr als 4.000 Jubel-Kommentaren verschwinden so die negativen Kommentare.

Shitstorms, Hass, Angst

Ursprünglich ist Christian Wolf Fitness-YouTuber. Da werde schnell mit spitzen Ellenbogen gespielt, berichtet uns ein Insider. Wenn sich Marktführer öffentlich duellieren, passiere das aber auf Augenhöhe. Wenn jedoch Privatpersonen aus Facebookgruppen oder Influencer:innen mit viel weniger Reichweite anvisiert werden, ist das Machtgefälle groß. Und mitunter verlässt dieses Konkurrenzgerangel sogar die virtuelle Welt.

Es gibt MORE noch nicht lange, als Christian Wolf schon anfängt, seine Community auf angeblich schlechte Konkurrenzprodukte hinzuweisen. Eine Influencerin trifft daraufhin eine Hasswelle, die so heftig ist, dass sie heute noch Angst hat. Sie solle verrecken, schreibt man ihr.

Zur Mitbewerberin ernannt

Eine andere Betroffene versucht, 2020 gegen MORE vorzugehen. Sie hat damals gerade mal 10.000 Follower, macht Social Media nur nebenbei. Über ihren Instagram-Kanal kritisiert sie das Marketing von MORE und teilt Erfahrungsberichte von anderen in ihrer Story. Weil sie über einen Rabattcode in ihrem Profil an Supplementen einer anderen Firma verdient hat, mahnt MORE sie als Mitbewerberin ab. Das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) ermöglicht es Unternehmen, gegen Konkurrenzanbieter vorzugehen, wenn diese sich rufschädigend über sie äußern.

Die Influencerin hat mit dem Rabattcode in ihrem Profil laut eigenen Angaben noch nicht mal 100 Euro im Jahr verdient. Sie knickt nicht ein und beauftragt einen Anwalt, aber verliert. Durch Verfahrenskosten und Ordnungsgelder kommen 35.000 Euro zusammen, die sie immer noch abbezahlt. Um sich das Verfahren leisten zu können, muss sie damals Spenden sammeln, Extra-Schichten machen, Urlaube und Pausen streichen. Warum sie der außergerichtlichen Abmahnung nicht einfach nachgegeben hat? Damit sich Social Media zum Besseren wandelt: „Ich möchte, dass sich Social Media so verändert, dass so ein Marketing nicht mehr möglich ist.“

Nicht nur MORE-, sondern TQG-Strategie?

Ganz ähnlich soll es bei Luca Negri laufen. Im Jahr 2022 ist er gerade 16 Jahre alt, als eine Abmahnung in seinem Briefkasten landet, die MedWatch vorliegt. Allerdings kommt die Abmahnung nicht von MORE, sondern von einer weiteren Firma des TQG-Imperiums: Fitmart. Sie verantwortet die Fitness-Marke ESN.

Der Minderjährige hatte auf TikTok Preise, Lieferprobleme, Gewinnspiele und Qualität von ESN-Produkten kritisiert. Fitmart erklärt ihn zum Mitbewerber. Hierzu müsste er „Unternehmer“ sein und zu Fitmart in einem konkreten Wettbewerbsverhältnis stehen.5§ 2 Abs. 1 Nr. 4 UWG Mit den Affiliate-Links in seinem Profil hatte Luca nach eigenen Angaben insgesamt nicht einmal 50 Euro verdient. Dennoch hat er Angst, aufgrund der von ihm geforderten Geldbeträge für den Rest seines Lebens verschuldet zu sein. Luca macht die Geschichte öffentlich und sammelt Spenden, um sich einen Anwalt leisten zu können. Auf öffentlichen Druck hin zieht Fitmart die Abmahnung zurück. Bedingung: Alle kritischen Postings müssen verschwinden.

Hier könnte die Geschichte vorbei sein, aber Christian Wolf tritt persönlich mit Luca in Kontakt und bietet ihm einen Job als Influencer bei MORE an. Luca lehnt ab, aber Wolf versucht, ihn zu überzeugen. Er erzählt ihm von einer Influencerin, die ähnlich jung bei MORE gestartet ist. Das Team habe sie gepusht, sodass sie in kürzester Zeit mehrere Tausend Follower bekommen habe und jetzt ungefähr 10.000 Euro im Monat verdiene. Davon könnte sie ihre ganze Familie ernähren.

Weil Luca noch schulpflichtig ist, schlägt Wolf ihm vor, einen Ausbildungsvertrag zu machen. Er berichtet, dass sie es bei einer anderen Person ähnlich gemacht hätten und will sich kümmern. Der Teenager glaubt ihm, sucht sich keinen anderen Ausbildungsplatz, träumt von einer eigenen Wohnung und wartet auf den Vertrag. Doch der kommt nie. Auch keine Antwort mehr von Christian Wolf oder anderen Verantwortlichen – über Monate. „Ich war komplett im Arsch“, erinnert Luca sich. Auf den letzten Drücker muss er sich einen neuen Ausbildungsplatz suchen.

Unbekannter Anrufer mit deutlicher Botschaft

In den folgenden Wochen fasst Luca nur noch Kritik an TQG zusammen, die andere äußern, wählt seine Worte so vorsichtig, dass er nicht abgemahnt werden kann. Aber was stattdessen passiert, erschreckt ihn umso mehr.

Nachdem er das dritte Video gepostet hat, klingelt sein Handy. Eine unbekannte Nummer ruft an. Er ruft sie am nächsten Tag zurück. Der Anrufer sagt nicht, wer er ist. „Wir treffen uns mal persönlich, dann zeig ich dir, wer ich bin.“ Den Satz hat sich Luca gemerkt. Im Schock löscht er alle Postings über TQG bei Instagram und TikTok.

Am nächsten Tag schreibt der Anrufer ihm per WhatsApp: „Luca altes Haus.“ „Wer bist du?“ „Willst du mich unbedingt kennenlernen?“ Es ist fast Mitternacht, als sie diese Nachrichten austauschen. Der unbekannte Nachrichten-Schreiber warnt Luca: „Falls du weiter witzig sein möchtest und denkst, du wärst cool [hier nennt er Lucas Adresse], können wir uns dann auch persönlich unterhalten.“ Als der Jugendliche seine EIGENE Adresse sieht, bekommt er Angst. Am nächsten Morgen geht er zur Polizei und zeigt das Erlebte an.

Weitere Drohungen mit Emojis

Eine ähnliche Nacht erlebt Eileen. Ihren Nachnamen verrät sie in der Öffentlichkeit nicht, aus Eigenschutz. „Ich bin immer noch so am Zittern vor Adrenalin und Aufregung. Ich bekomme kein Auge zu“, postet sie am 23. August auf ihrem Instagram-Kanal trashgossipfame4days. Eileen wohnt in Wien und arbeitet als Optikerin. In ihrer Freizeit teilt sie auf ihrem Kanal den Gossip der Instagram-Welt, so auch das negative Feedback zu MORE.

Am Abend ihres Postings erhält sie einen Anruf und anschließend WhatsApp-
Nachrichten – von einer österreichischen Nummer. Der Anrufer schickt ihr einen Text, den sie in ihre Story kopieren soll. Sie soll schreiben: „Ich habe soeben eine Abmahnung erhalten.“ – obwohl sie keine Abmahnung, sondern gerade einen einschüchternden Anruf erhalten hat. Außerdem solle sie ihre Aussagen zurückziehen „als Zeichen des guten Willens“. Und schreiben: „Bis auf Weiteres werde ich diesen Instagram-Account nicht mehr betreiben.“ Dazu schickt er folgende Emojis: 🤝🏾😃

Als Eileen wissen will, was andernfalls passiert, schickt der Unbekannte eine Sprachnachricht: „Keiner hat irgendwas vor. Ich kann dir mein Wort geben, dass die hier in Österreich… ich kenne niemanden, der deinen Finger berührt. Und so viel Macht habe ich hier, dass dir keiner was antun kann. Nun lass uns die Mitte finden. Es ist ja besser, Freunde zu finden, als sich Feinde zu machen.“ Auch wenn der Ton freundlich bleibt, versteht Eileen die Drohung und nimmt alle Postings, in denen es um TQG geht, offline.

Eileen ist klar, dass der Anrufer kontrollieren wird, ob sie wirklich alles offline genommen hat. Sie stellt ihr Profil auf privat; jetzt müssen alle, die ihr noch nicht folgen, erst anfragen, um ihren Account zu sehen. Und tatsächlich: Kurz darauf erhält sie eine Anfrage von einem Mann aus Wien. Sein Instagram-Profil ist öffentlich. Sie schaut sich seine Storys und Reels an und erkennt seine Stimme wieder: Er ist derjenige, der sie angerufen und ihr Sprachnachrichten geschickt hat.

Auf seinem Profil hat der Anrufer nur wenige Fotos. Auf einem Gruppenbild posiert er mit zwei Kämpfern der Kampfsportart Martial Arts-Szene. Die Brüder leben in Deutschland und teilen in ihren YouTube-Videos ESN-Rabattcodes. Der eine bezeichnet sich in seinem Instagram-Profil sogar als ESN-Athlet, der andere trägt auf dem Gruppenbild ein Shirt mit ESN-Logo drauf. Es ist unklar, ob sie wussten, dass ihr Freund aus Wien Eileen kontaktiert hat.

Die Geschichte wiederholt sich

Keine zwei Stunden später bekommt Eileen eine Nachricht von einer deutschen Nummer. Es ist dieselbe Nummer wie die, die auch Luca geschrieben hat. Das Gespräch verläuft ähnlich wie bei ihm. „Grüß dich Eileen. Du hattest ja schon eben das Vergnügen mit einem der Leute.“ „Wer schreibt?“ „Ist gerade unwichtig. […] Die Sache hier muss nicht eklig werden. Aber sie kann es von mir aus sehr gerne“, schreibt der Unbekannte.

Eileen hakt nach: „Schreibt die Mafia neuerdings auf WhatsApp?“ „Ja. Wie sieht’s aus? Willst du arbeiten?“ „Bitte?“ „Da du die Sachen raus hast, will ich dir ein Angebot machen, als Geschenk. […] Brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich biete dir einen Job an.“ „Wer ist ich?“ „Mein Name ist irrelevant bis zum Tag, an dem wir uns sehen. Ich bin der Mann hinter dem Ganzen.“ Der Unbekannte teast noch weiter den Job an, aber will nicht sagen, worum es geht. „Ich will persönlich reden. Brauchst dir keine Sorgen machen“, schreibt er weiter. Eileen entgegnet: „Mach ich nicht.“ „Deine Adresse habe ich sowieso schon, wenn ich was wollen würde.“ Er kündigt an, als Beweis „diese Leute“ bei ihr vorbeizuschicken. Es kommt niemand. Angst hat Eileen trotzdem. Es geht schließlich nicht nur um sie, sondern auch um ihre Familie. Auch sie meldet die Vorkommnisse der Polizei.

Was sagt das Unternehmen zu den Vorwürfen?

TQG schreibt auf Nachfrage: „Wir sind schockiert von den erhobenen Vorwürfen und distanzieren uns ganz klar von jeglicher Form von Drohungen oder Gewalt.“ Nachdem sie von den Vorwürfen erfahren haben, hätten sie unter anderem eine externe Anwaltskanzlei beauftragt, eine interne Untersuchung durchzuführen, die noch läuft. Darüber haben sie auch CVC als Investor informiert. CVC antwortet MedWatch: „Ein Verhalten, wie es in den Vorwürfen beschrieben wird, ist nicht akzeptabel und entspricht in keiner Weise unseren Werten – wir distanzieren uns davon deutlich.”

Beim Versuch, Christian Wolf für eine Stellungnahme zu kontaktieren, antwortet eine Kommunikationsagentur, die offenbar in seinem Auftrag arbeitet: „Die […] erwähnten Sachverhalte und Vorwürfe nimmt Christian Wolf sehr ernst. Die von Ihnen geschilderten angeblichen Folgen wünscht Christian Wolf selbstverständlich nicht.”

Die Angst bleibt

Sind damit alle Probleme vom Tisch? Nein, die Angst bleibt. Wer die Drohungen beauftragt hat und ob sie nur leere Luft waren oder nicht, ist nicht geklärt. Und den Kund:innen wird weiterhin viel versprochen. Auf dem offiziellen Instagram-Kanal von MORE gibt es seit Ende August beispielsweise eine neue Video-Serie mit Erfolgsgeschichten von Kund:innen. Die Titel: „Besser schlafen dank More”, „Heißhunger besiegt dank More”, „17 Kilo abgenommen dank More”. In einem der Videos erzählt eine Kundin, welche Produkte sie besonders mag: „Gerade das Arthro Support war mir einfach wichtig, das auch die Verwandten nehmen, die es benötigen“ und „das More Sleep habe ich meiner Mama empfohlen.“ Warum ausgerechnet Melatonin-Sprays und das Arthrose-Nahrungsergänzungsmittel aber nicht halten, was sie versprechen, darüber hat MedWatch schon ausführlich berichtet.

MORE wirbt trotzdem weiter und die Bestellungen steigen. Im Juli und August gab es laut eigenen Angaben rund 940.000 Bestellungen. Letzte Woche war das Lager angeblich so leergefegt, dass eine Rabattaktion ausfallen musste. Kommenden Sonntag dann: XXL-Aktion. Das Marketing wirkt weiter.


Redaktionelle Anmerkung: Wir kennen alle Namen der hier beschriebenen Fälle, haben für alle Aussagen Belege, und Eileen und Luca haben ihre Erfahrungen eidesstattlich versichert. Mehrere andere Personen sowie Dokumente bestätigen ihre Aussagen. Antonia Zimmermann wollte nicht mit MedWatch sprechen.

Update vom 16. Dezember 2023: Aufgrund einer einstweiligen Verfügung des Landgerichts Hamburg, die Christian Wolf gegen MedWatch erwirkt hat, mussten wir einzelne Passagen in dem Artikel überarbeiten. Das Gericht hat entschieden, dass Teile darin eine unzulässige Verdachtsberichterstattung über ihn beinhalten.


Redaktion: Sigrid März, Nicola Kuhrt, Nicole Hagen
Rechercheteam:
Angela Bechthold, Sabine V., Arne Weinberg

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    https://www.youtube.com/watch?v=yBNqT1p1de4
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    https://www.youtube.com/watch?v=i559zcPrTIY
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    https://www.youtube.com/watch?v=i559zcPrTIY
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    https://www.lebensmittelklarheit.de/news/angebliches-melatonin-wundermittel-anbieter-lenkt-ein
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    § 2 Abs. 1 Nr. 4 UWG