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Ernährung Keimarme Kost: Kliniken setzen Krebserkrankte Risiken aus

Eine Frau schält einen Apfel
Um Krebspatient:innen mit einem geschwächten Immunsystem vor Infektionen zu schützen, erhalten viele im Krankenhaus eine möglichst keimarme Ernährung. Das schadet eher. © Miljan Živković / iStock

Ein Fall von „gut gemeint“, aber nicht „gut gemacht“: Um Infektionen zu vermeiden, verabreichen viele Kliniken ihren Tumorpatient:innen eine keimarme Ernährung. Doch für den Nutzen dieser Kost fehlt die Evidenz – und die Folgen können schwerwiegend sein.

Auf den ersten Blick ist der Gedanke einleuchtend. Um Hochrisikopatient:innen mit einem geschwächten Immunsystem vor Infektionen zu schützen, erhalten sie im Krankenhaus eine möglichst keimarme Ernährung. Lange galt dies in der Krebsmedizin bei hochdosierter Chemo- und Stammzellentherapie als weit verbreiteter Standard.

Je nach Definition verzichteten die Kliniken bei der Verpflegung betroffener Menschen auf rohes Gemüse, Salat, frisches Obst, bestimmte Käsesorten, zum Teil auch Leitungswasser, und setzten auf eine besonders „intensive“ Zubereitung, also langes Erhitzen. Bei Verantwortlichen kursieren teils seitenlange Listen mit Lebensmitteln, sortiert nach „erlaubt“ und „nicht erlaubt“.

Wissenschaftlich hat sich mittlerweile eine andere Sicht durchgesetzt. Demnach hat keimarme Kost keinen belegbaren Nutzen. Sie kann im Gegenteil sogar großen Schaden anrichten. Eine MedWatch-Recherche zeigt, dass die Erkenntnis sich in der Praxis noch nicht durchgesetzt hat, noch nicht einmal bei den Unikliniken. Viele Einrichtungen handeln im Widerspruch zum Wissensstand.

Keimarm? „Wesentliche Fehlversorgung“

Keimarme Ernährung bringe „keinen Vorteil, aber erhebliche Risiken“ für die Patient:innen mit sich, heißt es in einer im März 2022 veröffentlichten Stellungnahme1https://www.ernaehrungs-umschau.de/fileadmin/Ernaehrungs-Umschau/pdfs/pdf_2022/03_22/EU03_2022_M134_M139.pdf der Deutschen Krebsgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und medizinische OnkologieOnkologie Die medizinische Fachrichtung der Onkologie beschäftigt sich mit der Entstehung und Entwicklung sowie der Beratung, Diagnose, Therapie und Nachsorge von gut- und bösartigen Tumorerkrankungen. Die Onkologie ist hierzulande der Internistik zugeordnet, operative Methoden fallen in andere Bereiche., des Verbands der Diätassistenten und des Berufsverbandes Oecotrophologie.

In einer Presseerklärung2https://www.krebsgesellschaft.de/deutsche-krebsgesellschaft-wtrl/individualisierte-ernährungstherapie.html warnen sie vor einer „wesentlichen Fehlversorgung“ von Krebserkrankten. Auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) erklärt auf Anfrage, hinter der Stellungnahme zu stehen.

Die Autor:innen berufen sich auf Metaanalysen aus den Jahren 20153https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26400721/ und 2019,4https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30948447/ die mehrere randomisierte kontrollierte Studien im Zusammenhang mit intensiven Chemotherapien und Stammzellentransplantationen auswerteten. Demnach gab es keinen signifikanten Unterschied beim Infektionsrisiko zwischen Patient:innen, die eine keimarme Ernährung erhielten und den Kontrollgruppen, die ein Standard-Krankenhausessen bekamen.

Dennoch, so kritisieren die Autor:innen der Stellungnahme, hätten einer Umfrage zufolge noch 2018 die meisten Kliniken Patient:innen im Zuge einer hämatologischen Stammzellentransplantation eine keimarme Kost empfohlen. Was kein Problem wäre – würde es keinen Schaden anrichten. Doch genau dies halten die Fachgesellschaften und Verbände für belegt. „Durch die einseitige Lebensmittelauswahl und die intensive Zubereitung kann die Ernährungsform einer keimarmen Kost eine MangelernährungMangelernährung Eine Mangelernährung – Malnutrition – bezeichnet die unzureichende Versorgung des Organismus mit Nährstoffen. Ursache einer Mangelernährung kann der Appetitverlust, bedingt durch chronische Krankheiten, sein. Auch Schluckstörungen, Verdauungsprobleme sowie bestimmte Medikamente können eine unausgeglichene Ernährung nach sich ziehen. Eine solche Mangelernährung kann in jedem Alter auftreten, besonders häufig ist sie jedoch in der älteren Bevölkerung zu finden. Zu den Symptomen zählen unter anderem Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Kopfschmerzen, Kreislaufprobleme, Sehstörungen, Verlust der Muskelkraft, Wundheilungsstörungen bis hin zu Herzrhythmusstörungen. Die Ausprägung der Symptome hängt vom Schweregrad der Mangelernährung ab. Durch die chronische Essstörung Anorexia nervosa kann sich auf Grund einer unzureichenden Versorgung mit Nährstoffen die sogenannte Lanugobehaarung bilden. Das ist eine Flaumbehaarung die ausschließlich bei Kindern im Mutterleib vorkommt und sich nach der Geburt zurückentwickelt. fördern“, heißt es in der Stellungnahme.

Risiko für Mangelernährung steigt durch keimarme Ernährung

„Schäle es, koche es, brüh‘ es auf oder lass es.“ Das war lange Zeit das gängige Motto bei der Versorgung von Krebserkrankten, berichtet Michael Adolph, Ärztlicher Leiter des Ernährungsmanagements der Universitätsklinik Tübingen. Er begrüßt den „Paradigmenwechsel“ hin zu einer normalen, ausgewogenen Ernährung, wie er in Tübingen derzeit vollzogen wird. Denn: „Was schwerkranke Patienten gar nicht brauchen, ist eine Mangelernährung.“

Eine Unterversorgung mit wichtigen Nährstoffen wie Proteinen, Vitaminen und Mineralstoffen ist ohnehin bereits ein verbreitetes Problem, das etwa ein Viertel der Krankenhauspatient:innen betrifft. Und bei an KrebsKrebs Statt eine spezifische Krankheit zu benennen, handelt es sich bei Krebs um einen Sammelbegriff für verschiedene Krankheiten. Ihnen allen gemeinsam ist jedoch das unkontrollierte Wachstum von Körperzellen, aufgrund eines Ungleichgewichts zwischen Zellwachstum und Zelltod. Die Folge daraus ist – außer bei Blutkrebsarten – eine Geschwulst ohne organspezifische Funktion. Dringt diese in das umliegende gesunde Gewebe ein, spricht man von bösartigen Tumoren; ausschließlich bösartigen Tumore werden als Krebs bezeichnet. Krebs kann zudem metastasieren, d.h. er breitet sich im Körper aus, indem die Krebszellen über Blut- und Lymphbahnen wandern und infolgedessen in anderen Organen Tochtergeschwülste bilden. erkrankten Menschen sogar noch deutlich mehr, wie MedWatch vor einigen Wochen berichtete:

Der Mangel hat Folgen. Das bestätigte die US-amerikanische Agentur für Forschung und Qualität im Gesundheitswesen (AHRQ) in einem großen systematischen Review.5https://effectivehealthcare.ahrq.gov/sites/default/files/product/pdf/cer-249-malnutrition-hospitalized-adults.pdf Die Forschung aus 20 Jahren zeige demnach, dass mangelernährte Patient:innen im Krankenhaus mit schlechteren Heilungsverläufen und mehr Komplikationen rechnen müssen. Auch für eine höhere Sterblichkeit fand die Behörde deutliche Hinweise.

Die Erkenntnisse sind gerade in der Krebsmedizin relevant. Studien zeigen, dass bis zu 20 Prozent der Krebspatient:innen nicht am Krebs selbst, sondern an den Folgen von Mangelernährung sterben.6https://link.springer.com/article/10.1007/s12254-020-00672-3 Und dass ein gutes Ernährungsmanagement die Sterblichkeit verringern kann.7https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(18)32776-4/fulltext

„…der bewegt sich im Bereich der Alternativmedizin“

Befördert keimarme Kost eine Unterversorgung mit wichtigen Nährstoffen, verschlechtert sie potenziell die klinischen Ergebnisse. Zudem beeinträchtige „eine solche Diät die Lebensqualität der Patienten signifikant“, warnte 2021 die KRINKO (Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention) beim Robert Koch-InstitutRobert Koch-Institut Das Robert-Koch-Institut (RKI) ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Seine Kernaufgaben sind die Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten, insbesondere von Infektionskrankheiten. Das Robert-Koch-Institut wirkt bei der Entwicklung von Normen und Standards mit. Es informiert und berät die Fachöffentlichkeit, sowie die breite Öffentlichkeit.. Und riet von einer strengen keimarmen Ernährung ab.8https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Krankenhaushygiene/Kommission/Downloads/Infektionspraevention_immunsupprimierte_Patienten.pdf?__blob=publicationFile#page=31&zoom=100,75,90

Anstatt auf zahlreiche Lebensmittel zu verzichten, soll der Schutz vor Infektionen heute vor allem durch optimale Küchenhygiene erreicht werden. Auch die Europäische Gesellschaft für klinische Ernährung und Stoffwechsel (ESPEN) sprach sich im selben Jahr aufgrund der fehlenden Evidenz gegen die langjährige Praxis aus.9https://www.espen.org/files/ESPEN-Guidelines/ESPEN-practical-guideline-clinical-nutrition-in-cancer.pdf

Jutta Hübner, Professorin am Universitätsklinikum Jena und eine der Autorinnen der im März 2022 veröffentlichten Stellungnahme, sagt: „Wer immer noch auf keimarme Ernährung setzt, bewegt sich im Bereich der Alternativmedizin.“ Ein harter Vorwurf. Und ausgerechnet die meisten deutschen Universitätskliniken müssen sich angesprochen fühlen, wie eine MedWatch-Recherche bei den Lehr- und Vorzeigekrankenhäusern ergab. (Anmerk. der Red.: Jutta Hübner ist Mitglied des Beirat von MedWatch)

Gefragt nach ihrem Ernährungsmanagement erteilten 12 von 38 durch uns kontaktierten Unikliniken – ungeachtet von Auskunftspflichten – keine Auskunft. Andere antworteten mit allgemeinen Absätzen, die auf konkrete Fragen nicht eingingen. Immerhin: Vielerorts betreuen multiprofessionelle Ernährungsteams die Menschen mit Krebserkrankungen. Und von den 26 Häusern die antworteten, gaben 23 an, onkologische Patient:innen bei Aufnahme grundsätzlich oder sogar vollständig auf Mangelernährung zu screenen. So sieht es die S3-Leitlinie für klinische Ernährung in der Onkologie vor. (Die Antworten im Wortlaut finden Sie im angehängten Dokument)

17 von 26 Unikliniken halten an keimarmer Kost fest

Ausnahmen gibt es auch hier. „Es wird nicht bei allen onkologischen Patient:innen ein Screening des Ernährungszustandes durchgeführt“, erklärte eine Sprecherin des Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden. Multiprofessionelle Ernährungsteams gebe es nicht, und auf keimarme Kost setzt das Klinikum bei Menschen mit Stammzellentransplantation auch weiter. „Besonders wichtig ist der Verzicht auf Nüsse“, sagt eine Sprecherin. Aber auch auf Salat und rohe Tomaten werde verzichtet – im Widerspruch zu den Empfehlungen.

Auch das Universitätsklinikum Frankfurt sendet eine lange Liste von Lebensmitteln, auf die bei einigen Patient:innengruppen grundsätzlich verzichtet werde. Darunter Vollkornbrot, Nüsse, Müslimischungen, frische Kräuter und Blattsalate. Die Abfrage zeigt: Keimarme Ernährung ist entgegen der aktuellen wissenschaftlichen Empfehlung weiterhin weit verbreitet.

Während vor allem die Unikliniken in Essen, HeidelbergHeidelberg Heidelberg ist eine Stadt in Baden-Württemberg. Als bedeutender Universitätsstandort ist sie besonders attraktiv für Wissenschaftler; das DKFZ sowie das EMBL Heidelberg sind dort ansässig. Die Stadt wird vom Neckar durchzogen, bietet eine märchenhafte Schlossruine sowie eine historische Altstadt., Leipzig und Tübingen auf die Entwicklungen reagiert und umgestellt haben, gaben 17 von 26 Unikliniken an, bei Patient:innen mit Chemo- oder Stammzellentherapie regelmäßig keimarme Kost zu verabreichen.

Manches Haus verwies zur Begründung auf annähernd 20 Jahre alte Richtlinien oder auf „nationale und internationale Empfehlungen“. Nicht erkennend, dass diese sich im Laufe der vergangenen Jahre änderten.

Die Unikliniken in Freiburg und Schleswig-Holstein begründeten den fortgesetzten Verzicht auf Lebensmittel sogar mit den aktuellen Empfehlungen, die das Gegenteil zum Ziel haben. Fünf Kliniken machten keine klaren Angaben oder gaben an, die jüngsten Stellungnahmen derzeit zu prüfen. Fest steht jedoch: Selbst von den Muster- und Lehrkrankenhäusern der Universitäten agiert ein erheblicher Teil nicht auf Höhe der Wissenschaft.


Einige Kliniken ließen eine MedWatch-Anfrage zu ihrem Ernährungsmanagement innerhalb von mehr als fünf Wochen unbeantwortet. So die Unikliniken in Aachen, Augsburg, Bochum, Düsseldorf, Erlangen, Greifswald, Mannheim, Oldenburg sowie das Klinikum an der LMU München. Das privatisierte Uniklinikum Gießen und Marburg verweigerte ausdrücklich eine Auskunft. Die Uniklinik Hamburg antwortete zwar zunächst, zog ihre Antwort aufgrund von Korrekturbedarf allerdings wieder zurück – eine Korrektur blieb bis Redaktionsschluss jedoch aus.


Redaktion: Angela Bechthold, Nicola Kuhrt, Nicole Hagen

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    https://www.ernaehrungs-umschau.de/fileadmin/Ernaehrungs-Umschau/pdfs/pdf_2022/03_22/EU03_2022_M134_M139.pdf
  • 2
    https://www.krebsgesellschaft.de/deutsche-krebsgesellschaft-wtrl/individualisierte-ernährungstherapie.html
  • 3
    https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26400721
  • 4
    https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30948447/
  • 5
    https://effectivehealthcare.ahrq.gov/sites/default/files/product/pdf/cer-249-malnutrition-hospitalized-adults.pdf
  • 6
    https://link.springer.com/article/10.1007/s12254-020-00672-3
  • 7
    https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(18)32776-4/fulltext
  • 8
    https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Krankenhaushygiene/Kommission/Downloads/Infektionspraevention_immunsupprimierte_Patienten.pdf?__blob=publicationFile#page=31&zoom=100,75,90
  • 9
    https://www.espen.org/files/ESPEN-Guidelines/ESPEN-practical-guideline-clinical-nutrition-in-cancer.pdf