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Chef des Bundesversicherungsamts „Kassen vergessen über Marktbehauptung ihren Auftrag für die Solidargemeinschaft“

Viele kleine Braunglasfläschchen in mehreren Reihen nebeneinander; zu lesen z.B. "Magnesium" "Mercurius" "Pulsatilla" "Ranunculus"
Gläschen mit Globuli © Hinnerk Feldwisch-Drentrup / MedWatch

Eigentlich dürfen Kassen nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB) wie auch der Rechtsprechung in Deutschland nur Therapien erstatten, die wirtschaftlich und wirksam sind – doch gibt es derzeit erhebliche Ausnahmen. So beispielsweise umstrittene „Individuelle Gesundheitsleistungen“ (IGeLIgeL IGeL – Individuelle Gesundheitsleistungen – gehören nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung in der vertragsärztlichen Versorgung und der Patient muss bei Inanspruchnahme selbst für die Kosten aufkommen. Patient*innen sind nicht verpflichtet, diese ärztlichen, zahnärztlichen oder psychotherapeutischen Leistungen anzunehmen. Oft handelt es sich hierbei um Leistungen, für die keine ausreichenden Belege für ihren Nutzen vorliegen oder die noch keiner Nutzenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) unterzogen wurden.), die eigentlich nicht zum Leistungsumfang gehören. Oder die HomöopathieHomöopathie Der deutsche Arzt Samuel Hahnemann postulierte gegen Ende des 18. Jh.s: »Ähnliches heilt Ähnliches«. So leitet sich das Wort Homöopathie von Homoion (für ähnlich) und Pathos (für Leiden) ab. Hahnemann verfolgte die Theorie, dass der Auslöser einer Krankheit oder der Auslöser für bestimmte Symptome auch zu deren Therapie genutzt werden kann. Bekanntestes Beispiel dafür ist die Chinarinde, mit der früher Malaria behandelt wurde. Die Einnahme dieser löste in einem Selbstversuch Hahnemanns Symptome einer Malaria aus. Damit sah er seine Theorie bestätigt. Die Homöopathie ist heute eine eigenständige Therapieform in der Alternativmedizin. Häufig werden für Globuli und Tinkturen die eingesetzten Substanzen zur Behandlung so stark verdünnt, dass in ihnen kein Wirkstoff mehr vorhanden ist. Für die Wirkung der Verdünnungen (Potenzen) wird ein Gedächtnis des Lösungsmittels, z.B. Wasser, angenommen. Für solch ein Gedächtnis von Wasser oder für eine generelle Wirkweise der Homöopathie über den Effekt eines Placebos hinaus gibt es jedoch keine wissenschaftlichen Belege; trotz mehr als 200 hochwertiger Studien dazu.: Im Rahmen von sogenannten „Satzungsleistungen“, die seit 2012 den Wettbewerb zwischen den Kassen anfeuern sollen, sowie von Selektivverträgen erstatten KrankenkassenKrankenkassen Eine Krankenkasse ist der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Krankenkassen stellen den Versicherten Leistungen zur Verfügung, die nach Vorlage der elektronischen Gesundheitskarte in Anspruch genommen werden können. Die meisten dieser Leistungen sind im SGB V festgeschrieben. Krankenkassen sind organisatorisch sowie finanziell unabhängig und unterstehen der Aufsicht von Bund oder Ländern. Im Gegensatz zu gesetzlichen Krankenversicherungen sind private Krankenversicherungsunternehmen Aktiengesellschaften oder Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (VVaG). auch homöopathische Behandlungen. Manchen Politikern ist dies aufgrund fehlender Wirksamkeit schon lange ein Dorn im Auge. Gesundheitsminister Jens SpahnSpahn Spahn, Jens; Bankkaufmann und Politologe, war 2018 bis 2021 Bundesminister für Gesundheit. Seit 2002 ist er Mitglied des Bundestages. (CDU) hatte sich 2010 dafür ausgesprochen, „sofort“ die Erstattung homöopathischer Leistungen durch Krankenkassen zu streichen, wenn sich die Gelegenheit ergibt.

Unterstützung bei diesem Plan bietet ihm jetzt der Bericht des Bundesversicherungsamts (BVA) von April. Hierzu führten Mitarbeiter der Aufsichtsbehörde strukturierte Interviews mit Kassen durch. „Viele Krankenkassenvertreter berichteten, dass sie zusätzliche Leistungen wie Osteopathie oder Homöopathie aufgrund des Drucks im Wettbewerb anbieten, obwohl sie selbst diesen Leistungsangeboten eher kritisch gegenüberstehen“, schreibt das BVA – der Wettbewerbsdruck und die Nachfragen der Versicherten seien „zu stark“, als dass die Kassen sich dem entziehen könnten. Das BVA stellt auch die Frage auf, ob Wahltarife „nicht besser in Gänze beziehungsweise zumindest teilweise aus dem Gesetz gestrichen werden sollten“. „Wenn sich Krankenkassen nur noch als Unternehmen begreifen und ihre Marktbehauptung in den Vordergrund ihrer Bemühungen stellen, haben sie ihren Auftrag in der Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung vergessen“, erklärte BVA-Präsident Frank Plate in einer Pressemitteilung. MedWatch hat bei ihm nachgefragt.

MedWatch: Sie kritisieren, dass Kassen mit unwirksamem Therapien Marketing machen und Versicherte ködern, anstatt das Geld für eine gute Versorgung einzusetzen. Könnten Sie als Aufsicht nicht aktuell schon verhindern, dass unwirksame Leistungen erstattet werden – beispielsweise im Bereich Homöopathie?

älterer Herr mit Brille, Hemd, Krawatte und Sakko
BVA-Präsident Frank Plate.
© BundesversicherungsamtBundesversicherungsamt Bis 2019 Bundesversicherungsamt (BVA), heute: Bundesamt für soziale Sicherung (BAS) mit Hauptsitz in Bonn. Die deutsche Bundesbehörde BAS ist dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) unterstellt. Seine Aufgabe ist es unter anderem die Rechtsaufsicht über die bundesunmittelbaren Träger der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Unfallversicherung sowie der sozialen Pflegeversicherung zu führen. Darüber hinaus hat das BAS vielfältige Aufgaben im System der Sozialversicherungen. Auch Verwaltungsaufgaben wie die Bewirtschaftung der Bundeszuschüsse und sonstigen Zuweisungen des Bundes an die Rentenversicherung, die Zulassung von Behandlungsprogrammen für chronisch Kranke, die Durchführung des Finanzausgleichs in der sozialen Pflegeversicherung und des Risikostrukturausgleichs sowie die Verwaltung des Gesundheitsfonds. (BVA)

Frank Plate: Wir kritisieren, dass die Krankenkassen zum Teil auf der Basis entsprechender Satzungsmehrleistungen oder von Selektivverträgen etwa IGeL-Leistungen erstatten, deren Nutzen nicht oder noch nicht hinreichend wissenschaftlich belegt ist. Die Verhinderung derartiger Leistungsangebote ist aufsichtsrechtlich nicht durchsetzbar, weil nach aktueller Rechtslage den Krankenkassen dieser Gestaltungsspielraum zubilligt wird. Leistungen der Homöopathie sind im Übrigen als Leistungen der besonderen Therapierichtungen ausdrücklich nicht vom Leistungskatalog ausgeschlossen. Aus Sicht des Bundesversicherungsamtes sollten die Krankenkassen die begrenzten finanziellen Mittel vorrangig für Leistungen ausgeben, deren Nutzen wissenschaftlich belegt ist.

MedWatch: Der GKV-Spitzenverband findet es vernünftig, dass es den Spielraum gibt und sieht es als positiv an, dass manche Angebote heiß umstritten sind: Hier ergebe sich die Möglichkeit für Krankenkassen, sich voneinander zu unterscheiden. Die Versicherten könnten ja ihre Kasse wechseln.

Plate: Angesichts eines weitestgehend gesetzlich festgelegten einheitlichen Leistungskatalogs der GKV ist dem GKV-Spitzenverband insoweit zuzustimmen, als sich die Krankenkassen über Mehrleistungen gut und sichtbar voneinander abgrenzen können. Die Möglichkeit zum Angebot von Mehrleistungen wird von uns auch nicht grundsätzlich negativ eingeschätzt. Zu diskutieren ist jedoch, ob es erlaubt sein soll, dass wissenschaftlich nicht belegte Leistungen angeboten werden.

MedWatch: Würden Sie den Kassen vorwerfen, dass sie ihren gesetzlich gegebenen Spielraum ausnutzen?

Plate: Dass die Krankenkassen innerhalb des gesetzlichen Spielraums aktiv agieren, liegt in der Natur der Sache und ist für sich gesehen nicht zu beanstanden: Wenn der Gesetzgeber Gestaltungsspielräume schafft, wären die Krankenkassen schlecht beraten, diese nicht zu nutzen. Die Diskussion sollte aus unserer Sicht eher inhaltlich geführt werden: Welche Spielräume oder Leistungsbereiche sollte der Gesetzgeber den Krankenkassen zur Gestaltung eröffnen?

Wir stellen fest, dass viele Krankenkassen Leistungen, deren wissenschaftlicher Nutzen nicht belegt ist, ebenfalls kritisch gegenüberstehen. Allerdings sind die Krankenkassen in ihren Entscheidungen über Mehrleistungen insoweit nicht völlig frei, als dass diese sich im Wettbewerb behaupten müssen. Die Krankenkassen sind gewissermaßen gezwungen, das Angebot ihrer Mitbewerber zu beobachten und dann mit einem vergleichbaren Angebot gegenüber ihren Versicherten nach zu ziehen.

MedWatch: Welche Forderungen ergeben sich hieraus für Sie an die Politik?

Im Fokus sollte der Wettbewerb um eine bessere Versorgungsqualität stehen. Der Leistungskatalog sollte auf Leistungen begrenzt werden, deren wissenschaftlicher Nutzen belegbar ist. Innovative Versorgungsansätze sollten gefördert werden, anstelle der heutigen Über- und Fehlversorgung, die es in manchen Bereichen gibt. § 11 Abs. 6 SGB V sollte rechtlich dahingehend konkretisiert werden, dass lediglich zusätzliche Leistungen zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden dürfen, deren Nutzen wissenschaftlich belegt ist.

MedWatch: Und warum sind Wirknachweise für Sie überhaupt so wichtig?

Plate: Die gesetzlichen Krankenkassen finanzieren sich aus Arbeitnehmer- und Arbeitgeberpflichtbeiträgen. Die Höhe der Lohnnebenkosten ist auch für Deutschlands Wirtschaft standortrelevant. Im Interesse der Finanzierbarkeit des Gesamtsystems sollten diese öffentlichen Mittel möglichst zielgerichtet und vor allem wirtschaftlich verwendet werden. Zudem werden IGeL-Leistungen mitunter tatsächlich als potenziell schädlich eingestuft, wie es der IGeL-Monitor des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung immer wieder feststellt.