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Clean Meds – was ist das? Nicht ganz sauber

Braune Papiertüte mit dem Stempeldruck 'Clean Meds', und kleiner Karton mit dem Aufdruck 'Alternative?' umgeben von weißen Tabletten. Blatt einer Aloe Vera sowie einer Kaffeepflanze liegen daneben.
Clean Meds sollen eine Alternative auf dem Medikamentenmarkt darstellen. Sind sie das wirklich? © Nicole Hagen / MedWatch

ArzneimittelArzneimittel Arzneimittel sind Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die angewandt werden, um Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder Beschwerden zu heilen, zu lindern oder zu verhüten. Es kann sich hierbei ebenfalls um Mittel handeln, die dafür sorgen, dass Krankheiten oder Beschwerden gar nicht erst auftreten. Die Definition beinhaltet ebenso Substanzen, die der Diagnose einer Krankheit nutzen oder seelische Zustände beeinflussen. Die Mittel können dabei im Körper oder auch am Körper wirken. Das gilt sowohl für die Anwendung beim Menschen als auch beim Tier. Die gesetzliche Definition von Arzneimitteln ist im § 2 Arzneimittelgesetz (AMG) enthalten. gelten mitunter als „chemisch“ und „unnatürlich“. Hersteller, die mit dem Konzept Clean Meds werben, nutzen dies aus. Ihre Medikamente kommen mit einer recycelbaren Verpackung und pflanzlichen Hilfsstoffen daher. Wem das etwas bringen soll, bleibt fraglich.

„Ditch the Dirty“, auf Deutsch „Weg mit dem Dreck“ – so titelte im Jahr 2020 der US-amerikanische Arzneimittelhersteller Genexa eine Werbekampagne. Damit wollte die Firma auf angeblich schädliche Arzneimittel-Hilfsstoffe wie Kaliumsorbat, Lactose, TitandioxidTitandioxid Titandioxid wird größtenteils als Pigment in Farben, Lacken, Papier und Kunststoffen eingesetzt. Es wurde bis vor kurzem jedoch auch als Zusatzstoff in Lebensmitteln (E171) als weißes Farbpigment – z.B. im Überzug weißer Dragees und Kaugummis – verwendet. Seit dem Sommer 2022 darf Titandioxid in Deutschland nicht mehr in Lebensmitteln eingesetzt werden, da es neuerdings als vermutlich krebserregend eingestuft wurde. Als CI 77891 taucht Titandioxid als Weißpigment in Kosmetika, wie z.B. Zahnpasta auf. Auch manchem Sonnenschutzmittel ist es als UV-Filter beigemischt. oder Gelatine aufmerksam machen. 

Gleichzeitig präsentierte Genexa als Gegenentwurf zu den „künstlichen“ Füllstoffen „saubere” Alternativen wie Maltodextrin, Agavenfasern, Reisextrakt, Cellulose oder Lecithin. Diese Verbindungen seien organischen Ursprungs und nachhaltig produziert. Clean Medicines oder kurz: Clean Meds, also „saubere Medikamente“ nennt das Unternehmen sein Konzept.

Auf den ersten Blick unterscheidet sich Genexas Sortiment nicht von dem anderer Hersteller: Das Schmerzmittel Paracetamol findet sich dort ebenso wie der Hustenstiller Dextromethorphan oder das Antiallergikum DiphenhydraminDiphenhydramin Diphenhydramin ist ein Antihistamin, ein antiallergischer Wirkstoff, der ersten Generation. Es wird auf Grund seiner sedierenden Wirkung zur kurzfristigen Behandlung von Schlafstörungen eingesetzt. Da Antihistaminika der zweiten Generation im Gegensatz zu Diphenhydramin die Blut-Hirn-Schranke kaum noch überwinden, bleibt bei diesen die Müdigkeit als Nebenwirkung aus. Es kann gegen Übelkeit, z.B. verursacht durch die Reisekrankheit, und allergische Reaktionen angewandt werden.. Ein Großteil der Produkte im Shop jedoch sind NahrungsergänzungsmittelNahrungsergänzungsmittel Nahrungsergänzungsmittel werden den Lebensmitteln zugeordnet und sind abgegrenzt von Medikamenten zu betrachten. So dürfen sie, wie der Name schon sagt, die normale Ernährung ergänzen, sie jedoch nicht ersetzen und zudem keine arzneiliche Wirkung zeigen. Sie werden als Kapseln, Tabletten, Tropfen oder Ähnliches angeboten und enthalten oft Vitamine, Mineralstoffe oder sonstige Nährstoffe, die eine Wirkung erzielen sollen. Sie dürfen jedoch nicht wie ein Arzneimittel beworben werden. Die Hersteller dürfen keine spezifische Wirkung wie die Linderung oder Vorbeugung einer Krankheit anpreisen oder für ein definiertes Anwendungsgebiet werben. und Homöopathika, vorwiegend für Kinder.

Das Geschäft mit den „sauberen“ Medikamenten brummt, US-amerikanische Medien berichten wohlwollend über den Arzneimittelhersteller. Oscar-Preisträgerin und Unternehmerin Gwyneth Paltrow investierte in Genexa. Im Jahr 2021 kam mit der Marke „KinderMeds“ ein weiterer Anbieter auf den US-amerikanischen Markt, mit einem ähnlichen Versprechen und Produktsortiment.

Im Zentrum des Marketings beider Firmen steht folgende Behauptung: In üblichen Arzneimitteln befinden sich Hilfsstoffe, die allergieauslösend und gesundheitsschädigend wirken. Aber stimmt das überhaupt?

Wie sicher sind Hilfsstoffe?

Stabilisatoren, Konservierungsmittel, Lösungsvermittler oder Farbstoffe sollen Pillen ihre Form und Farbe geben, ihre Herstellung erleichtern oder steuern, wie schnell ein Wirkstoff aus einer Tablette freigesetzt wird. Diese Hilfsstoffe wurden in der Regel über viele Jahre untersucht und gelten deshalb als gesundheitlich unbedenklich. Von Zeit zu Zeit säen Berichte aber Zweifel. 

Ein Beispiel dafür ist Titandioxid, über das MedWatch Ende 2021 berichtete. Lange galt der Farbstoff als unbedenklich. Doch neuere Tierversuche deuten darauf hin, dass Titandioxid sich im Körper anreichern und das Erbgut schädigen könnte. In Zahnpasta oder Zuckerguss darf die Substanz daher nicht mehr eingesetzt werden; in Arzneimitteln schon. Die Industrie soll ihre Produktion zwar umstellen, benötigt dafür aber Zeit.

Titandioxid allerdings ist ein Einzelfall. Wie hoch das Risiko ist, dass dieser Hilfsstoff den Menschen schädigt, ist unklar. Vielleicht ist das Risiko gering, vielleicht vernachlässigt es die Industrie auch, um Ausgaben zu vermeiden. Was bleibt, ist die Verunsicherung. Wirbt eine Firma dann damit, auf konventionelle Hilfsstoffe zu verzichten, stößt sie bei Verbraucher:innen auf offene Ohren. Etwa die Ohren jener Menschen, die von Allergien und Unverträglichkeiten geplagt sind.

Keine Alternative für Allergiker:innen

Zuverlässige Daten dazu, wie häufig allergische Reaktionen auf Hilfsstoffe sind, gibt es nicht.1https://www.jiaci.org/summary/vol30-issue2-num1968 Doch in allergologischen Fachzeitschriften kursieren zunehmend Fallberichte, in denen Mediziner:innen Arzneimittel-Hilfsstoffe als Ursache für schwere allergische Reaktionen verdächtigen. Allergologie-Professor Wolfgang Pfützner etwa fasste zahlreiche dokumentierte Fälle in einer Übersichtsarbeit im „Allergo Journal International“ so zusammen: Ja, echte allergische Reaktionen auf ausgewählte Hilfsstoffe – zum Beispiel Polyethylenglykol (PEG) und Gelatine – sind möglich.2https://link.springer.com/article/10.1007/s40629-022-00214-9 

Mitunter entscheidet die Art der Anwendung, wie ein Körper auf einen Hilfsstoff reagiert. Pfützner berichtet zum Beispiel von einem Patienten mit bestätigter PEG-Allergie, welcher jedoch einen COVID-Impfstoff mit diesem Hilfsstoff gut vertrug.

Bei vielen potenziellen Hilfsstoff-Allergien ist die auslösende Substanz unbekannt oder für einen Test nicht verfügbar. Und wo es Tests gibt, werden sie selten angewandt. Aus Sicht der Wissenschaft heißt das: Allergien auf Hilfsstoffe könnten zwar ein unterschätztes Problem sein. Mehr wissen wir aber erst, wenn wir weiter forschen.

Tabletten meiden bei LaktoseintoleranzLaktoseintoleranz Eine Unverträglichkeit des Körpers von Milchzucker (Laktose) wird als Laktoseintoleranz bezeichnet. Spezifische Symptome, wie Blähungen, Bauchschmerzen und Durchfall tauchen nach dem Verzehr milchhaltiger Produkte auf. Unspezifischer äußert sie sich u.a. durch Unwohlgefühl und Kopfschmerz. Die Unverträglichkeit von Milchzucker entsteht durch den Mangel des Enzyms Laktase, welches normalerweise Laktose abbauen würde. Stattdessen kümmern sich nun Darmbakterien um diesen Abbau. Dadurch entstehen Gase, welche die erwähnten Symptome hervorrufen. Behandelt wird die Laktoseintoleranz durch Weglassen von Milchprodukten, ergänzt mit Laktase-Tabletten. Geheilt werden kann die Nahrungsunverträglichkeit nicht. Es wird zudem zwischen einer primären (angeborenen) und einer sekundären (erworbenen) Laktoseintoleranz unterschieden. Bei ersterer entsteht der Mangel an Laktase eigenständig und ist irreversibel. Die erworbene Laktoseintoleranz taucht hingegen nach Schädigungen der Darmschleimhaut auf und ist in vielen Fällen durchaus reversibel.?

Geschätzt jeder fünfte Mensch in Deutschland ist laktoseintolerant. Der Hilfsstoff Laktose wiederum findet sich häufig in Tabletten, Kapseln und Pulverinhalatoren. Dennoch ist das nicht pauschal problematisch. Reagieren Menschen hingegen allergisch auf eine Substanz, reichen oft Spuren, um eine Reaktion auszulösen. Anders bei Unverträglichkeiten wie einer Laktoseintoleranz. Hier entscheidet die Menge an eingenommener Substanz, ob Symptome auftreten.

Bei Menschen mit gewöhnlich ausgeprägter Laktoseintoleranz ist die in Tabletten enthaltene Menge Laktose zu gering, als dass Symptome einer Unverträglichkeit im Magen-Darm-Trakt zu erwarten wären. Nur wenn Menschen außergewöhnlich stark auf Laktose reagieren oder mehrere laktosehaltige Arzneimittel gleichzeitig einnehmen müssen, können Symptome auftreten. Dann ist es sinnvoll, laktosehaltige Arzneimittel zu meiden.

Könnten Allergiker:innen also von Clean Meds profitieren? Allergologe Wolfgang Pfützner ist skeptisch. Auf Anfrage von MedWatch schreibt er, er halte den Ansatz von Genexa für medizinisch wenig sinnvoll. Denn pflanzliche Stoffe, die Genexa statt der üblichen Hilfsstoffe einsetze, seien nicht weniger allergen. „Bemerkenswerterweise ist es sogar so, dass sich Allergien typischerweise auf natürliche Umweltstoffe ausbilden“, sagt Pfützner. Insofern sei es nicht sinnvoll, einen „künstlichen“ Zusatzstoff gegen irgendeinen pflanzlichen auszutauschen. Eher sollten Allergiker:innen gezielt Hilfsstoffe meiden, von denen bekannt sei, dass sie potenziell Allergien auslösen – zum Beispiel Polysorbat 80 oder der Farbstoff E 131. 

Clean Meds in Deutschland?

Wer sich in Deutschland über Clean Meds informieren möchte, stößt etwa auf Erklärungen einer großen deutschen Betriebskrankenkasse oder ein Video der österreichischen Apothekerkammer. Deren Fazit: Immer mehr Clean Meds landen auch auf dem deutschen Arzneimittelmarkt. Trotzdem fehlen hier bislang vergleichbare Hersteller wie Genexa.

Gäbe es sie, dürften sie nicht wie Genexa den „organischen Ursprung“ der Bestandteile auf der Verpackung bewerben. Wie das Oberlandesgericht München im August 2022 urteilte, sind  Bio- oder Traditions-Angaben auf Arzneimitteln unzulässig.3https://www.wettbewerbszentrale.de/de/home/_news/?id=3591 Ursprung des Urteils war ein Arzneitee, der mit Angaben zum biologischen Anbau beworben wurde. Nach dem Arzneimittelgesetz sind nur Angaben auf Verpackungen rechtens, die mit der Anwendung des Arzneimittels in Zusammenhang stehen.

Erlaubt sind hingegen Label wie „laktosefrei“ oder „ohne glutenhaltige Rezepturbestandteile“, mit denen pharmazeutische Unternehmen ihre Arzneimittel auch für den deutschen Markt zunehmend versehen. Firmen wie etwa Aristo Pharma mit Sitz in Berlin. Grundsätzlich gelten die üblicherweise eingesetzten Hilfsstoffe als unbedenklich, schreibt der Leiter für medizinische Information Dietmar Schakau auf MedWatch-Anfrage. Doch weil Unverträglichkeiten nicht ausgeschlossen werden könnten, veröffentliche das Unternehmen heute mehr Daten zur Zusammensetzung.

Gleichzeitig prüfe Aristo Pharma bei neuen und alten Arzneimitteln kontinuierlich, ob sich einzelne Hilfsstoffe austauschen ließen, schreibt Schakau. Doch alternative Hilfsstoffe müssten dafür natürlich dieselben Eigenschaften für die Tablette mitbringen – egal, ob es um Form oder Freisetzung des Wirkstoffs aus der Tablette geht. Das kostet Zeit und Geld.

Für jeden gibt es eine Lösung

Die Problematik kennt auch Maximilian Wilke, der auf seiner Webseite ebenfalls über Clean Meds informiert. „In der Industrie herrscht oft die Bequemlichkeit, Arzneimittel-Zusammensetzungen, die seit 30 Jahren bestehen, einfach beizubehalten”, sagt er gegenüber MedWatch. Hersteller sollten versuchen, auf Hilfsstoffe zu verzichten, auf die viele Menschen allergisch reagieren, insofern sie nicht notwendig seien. 

Unabhängig von der Gesetzeslage ist klar: Patient:innen fordern heute mehr Transparenz darüber, was in ihren Medikamenten enthalten ist. Das erfuhr Wilke auch immer wieder durch seinen Beruf als Apotheker. Kurzerhand entwickelte er die kostenlose App „Whatsin“. Nutzer:innen können in ihrem Profil hinterlegen, ob sie mit Allergien oder Unverträglichkeiten auf bestimmte Stoffe reagieren oder zum Beispiel pauschal auf tierische Produkte verzichten möchten. Die App sucht dann die Arzneimittel heraus, die die Menschen trotz der Einschränkungen einnehmen können. 

Für jeden Menschen gebe es eine Lösung, sagt Wilke. „Egal, ob Patienten vegetarisch leben oder Gluten oder Laktose nicht vertragen: Schon jetzt gibt es fast immer eine Alternative.” Die Auswahl an Arzneimitteln sei divers. „Komisch ist nur, dass ich diese App entwickeln musste, um die Lösungen zu finden”, sagt der Apotheker.

Wie „sauber“ ist eigentlich Clean?

Eine dieser Lösungen und der Wunsch vieler Menschen heißt auch in Deutschland: „Weg mit dem Dreck“ und her mit mehr Clean Meds. Aber wofür soll das Clean eigentlich stehen?

Die Herstellung von Wirkstoffen wie Paracetamol ist in der Regel nicht gerade „sauber”. Aus Kostengründen verlagerten Arzneimittelhersteller einen Großteil der Wirkstoffproduktion nach Indien und China, wo geringere Umwelt- und Menschenrechtsstandards gelten als in den USA oder Europa. Wir haben Genexa gefragt, wie ihre Wirkstoffe Paracetamol und Dextromethorphan produziert werden. Unsere Fragen hat die Firma nicht beantwortet.

Ohnehin ist fraglich, ob das Konzept etwa Allergiker:innen wirklich nutzen könnte. Allergologe Pfützner sagt, Hilfsstoffe seien nur für einen geringen Teil der allergischen Reaktionen auf Arzneimittel verantwortlich. Fast alle allergischen Reaktionen seien auf Wirkstoffe zurückzuführen. 

Und auf Wirkstoffe zu verzichten, ist nicht sonderlich sinnvoll.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, dass die App “Whatsin” kostenpflichtig ist. Sie ist aber kostenlos. Wir haben den Fehler korrigiert.


Redaktion: Sigrid März, Angela Bechthold, Nicole Hagen

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    https://www.jiaci.org/summary/vol30-issue2-num1968
  • 2
    https://link.springer.com/article/10.1007/s40629-022-00214-9
  • 3
    https://www.wettbewerbszentrale.de/de/home/_news/?id=3591