Nach dem Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine übersetzt die MedWatch-Redaktion wichtige Gesundheitsinformationen für Geflüchtete aus der Ukraine. In den folgenden Monaten erreichen MedWatch Hunderte E-Mails von Menschen in gesundheitlichen Notlagen. Ein Blick zurück und nach vorn.
Raketen schlagen immer und immer wieder in ukrainische Kliniken und Wohngebäude ein.1https://www.laender-analysen.de/ukraine-analysen/ Die Infrastruktur im Land ist massiv beschädigt. Medizinisches Fachpersonal fehlt, ebenso lebenswichtige Güter. Zur selben Zeit müssen Menschen mit schweren Infektionskrankheiten und chronischen Erkrankungen versorgt werden.2https://www.thelancet.com/journals/lanepe/article/PIIS2666-7762(22)00051-5/fulltext Jene, die in Deutschland ankommen, finden sich in einem ihnen unbekannten GesundheitssystemGesundheitssystem Das deutsche Gesundheitssystem ist ein duales Krankenversicherungssystem bestehend aus der GKV (Gesetzlichen Krankenversicherung) und der PKV (private Krankenversicherungen). Seit der Gesundheitsreform 2007 muss jeder, der in Deutschland seinen Wohnsitz hat, eine Krankenversicherung haben. Wichtig ist zudem das Prinzip der Selbstverwaltung und der Sachleistung. D.h. Krankenkassen erfüllen die ihnen gesetzlich übertragenen Aufgaben in eigener Verantwortung. Es existiert eine gemeinsame Selbstverwaltung der Leistungserbringer und Kostenträger. Wichtigstes Organ hierbei auf Bundesebene ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). wieder.
Das Ukraine-Projekt von MedWatch
Ende Februar 2022 beginnt die MedWatch-Redaktion, Gesundheitsinformationen für Geflüchtete aus der Ukraine zu übersetzen und online zu teilen. Die Wochen darauf schreiben hunderte Menschen E-Mails an die Redaktion, Mails aus der Ukraine, und auch von Ukrainer:innen in Deutschland. „Hilfe, OnkologieOnkologie Die medizinische Fachrichtung der Onkologie beschäftigt sich mit der Entstehung und Entwicklung sowie der Beratung, Diagnose, Therapie und Nachsorge von gut- und bösartigen Tumorerkrankungen. Die Onkologie ist hierzulande der Internistik zugeordnet, operative Methoden fallen in andere Bereiche.“ oder „I need help!“ steht in Betreffzeilen der Nachrichten. Ein Mann schreibt: „Save my mom please“.
Die Verfasser:innen sind schwanger, haben Herz-Kreislauf-Erkrankungen, erhalten eine HIVHIV HIV – Human Immunodeficiency Virus; zu Deutsch: »Humanes Immundefizienz-Virus« ist ein Virus, welches AIDS auslösen kann. AIDS ist die Abkürzung für Acquired Immunodeficiency Syndrome, was mit »Erworbenes Immunschwächesyndrom« übersetzt werden kann. Durch eine Infektion mit dem HI-Virus kommt es zu einer Schwächung des körpereigenen Immunsystems, so dass zumeist unproblematisch verlaufende Krankheiten zu einem Problem werden. Eine Infektion mit HIV wurde zum ersten Mal 1981 diagnostiziert und hat sich seitdem zu einer Pandemie entwickelt. Die Therapie wurde in den letzten Jahren massiv verbessert, so dass Infizierten ein wesentlich längeres Leben mit hoher Qualität ermöglich wird.-TherapieTherapie Therapie bezeichnet eine Heil- oder Krankenbehandlung im weitesten Sinn. Es kann hierbei die Beseitigung einer Krankheitsursache oder die Beseitigung von Symptomen im Mittelpunkt stehen. Ziel einer jeden Therapie ist die Widerherstellung der physischen und psychischen Funktionen eines Patienten durch einen Therapeuten. Soweit dies unter den jeweiligen Bedingungen möglich ist., brauchen Diabetes-Medikamente oder müssen operiert werden. Viele fragen, wie sie ihre KrebstherapieKrebstherapie Eine Krebstherapie ist immer spezifisch auf die jeweilige Tumorart angepasst, da Krebs keine spezifische Krankheit, sondern ein Sammelbegriff für verschiedene Erkrankungen ist, die auf gleichen Grundlagen beruhen. Auch ist der Verlauf einer bösartigen Tumorerkrankung von Mensch zu Mensch individuell. Es existieren neben weiteren Methoden drei zentrale Säulen in der Krebsbehandlung: Operation, Strahlen- und Chemotherapie. fortsetzen können.
Mithilfe ehrenamtlicher Übersetzer:innen beantwortet das MedWatch-Team jede E-Mail, vermittelt an Fach- und Beratungsstellen, hakt bei Behörden nach, recherchiert Adressen, sucht Ärzt:innen.
Die Pharmazeutin Yevgeniya Dranova aus Baden-Württemberg ist eine der Übersetzerinnen. Sie sagt: „Es war keine Frage: Ich bin Ukrainerin, mein Mann ist Ukrainer, meine Eltern. Es ist Krieg im Land ausgebrochen. Das ist so unvorstellbar, dass du nicht weißt, was du machen kannst, aber du willst etwas tun. Man tut einfach alles, was einem in die Hände fällt, alles, was man für möglich hält.“
Auch Irina Juhl, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, übersetzte in unserem Projekt. Zu Beginn des Krieges habe sie überall geschaut, wo sie neben ihrer Arbeit helfen kann. Nachbarn und Kollegen fragten sie in den ersten Wochen immer wieder nach Hilfe beim Übersetzen, weil Patient:innen bei ihnen waren, die dringend Hilfe suchten. „Das scheint gebraucht zu werden”, dachte sie.
Insgesamt hat MedWatch in rund 1.000 Fällen auf Anfragen mit Informationen von der Website antworten können oder spezielle Unterstützung vermittelt. Aus den Erfahrungen hat die Redaktion weitere Info-Texte geschrieben und übersetzt. Bis heute erreichen MedWatch Fragen und veranschaulichen die Sorgen, Unsicherheiten und Nöte der Menschen, die trotz Informationskampagnen staatlicher Stellen nicht direkt die benötigte Unterstützung fanden.
Ein Gesundheitssystem unter Bomben
Laut einer Umfrage der Internationalen Organisation für Migration, veröffentlicht Ende 2022, hat fast jede:r dritte Ukrainer:in keinen Zugang zu medizinischer Versorgung innerhalb der Ukraine. Im Osten und Süden des Landes ist die Zahl höher.
Ein Zusammenschluss von fünf NGOs dokumentiert seit Beginn des Krieges bis Anfang Juli 2023 mehr als 970 Angriffe auf das ukrainische Gesundheitssystem. Davon hätten mindestens 380 Angriffe Krankenhäuser beschädigt oder zerstört. Mehr als 140 Menschen aus dem Gesundheitssektor seien getötet worden. In den ersten zwei Wochen des Krieges habe Russland täglich vier bis fünf Krankenhäuser und Kliniken angegriffen.3https://reliefweb.int/report/ukraine/destruction-and-devastation-one-year-russias-assault-ukraines-health-care-system
Viele, die auf dem Weg raus aus der Ukraine sind oder bereits im Ausland, plagt die Ungewissheit, was sie in Deutschland oder andernorts erwartet.
Frauen und Kinder
E-Mail, März 2022 – Sie sei mit ihrem Sohn geflohen. Noch sei sie in einem Nachbarland, dort habe sie keine Verwandten. Sie habe KrebsKrebs Statt eine spezifische Krankheit zu benennen, handelt es sich bei Krebs um einen Sammelbegriff für verschiedene Krankheiten. Ihnen allen gemeinsam ist jedoch das unkontrollierte Wachstum von Körperzellen, aufgrund eines Ungleichgewichts zwischen Zellwachstum und Zelltod. Die Folge daraus ist – außer bei Blutkrebsarten – eine Geschwulst ohne organspezifische Funktion. Dringt diese in das umliegende gesunde Gewebe ein, spricht man von bösartigen Tumoren; ausschließlich bösartigen Tumore werden als Krebs bezeichnet. Krebs kann zudem metastasieren, d.h. er breitet sich im Körper aus, indem die Krebszellen über Blut- und Lymphbahnen wandern und infolgedessen in anderen Organen Tochtergeschwülste bilden.. Ob sie Hilfe in Deutschland bekommen könne? Wo?
E-Mail, März 2022 – Er könne seiner Mutter nicht helfen, er könne die Ukraine nicht verlassen. Sie arbeite seit einigen Wochen im Ausland. Ihr Krebs wurde erst dort diagnostiziert. Es gebe keinen Übersetzer. Seine Mutter habe noch keine ChemotherapieChemotherapie Die Chemotherapie ist, neben OP und Strahlentherapie, eine der zentralen Behandlungsmöglichkeiten bei Krebs. Sie umfasst die zyklische Behandlung mit chemischen Substanzen – Zytostatika – in Form von Infusionen, Spritzen oder Tabletten. Die zumeist systemisch wirkenden Medikamente richten sich auch gegen gesunde Zellen, was die typischen Nebenwirkungen wie Haarausfall, Blutarmut, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Infektionen im Mund erklärt. bekommen.
E-Mail vom März 2022 – Zwei Wochen habe sie sich vor den Bomben versteckt. Dabei habe sie viel gelegen. Ihre Arthritis habe sich danach verschlimmert. Sie sei fast in Deutschland. In welche Klinik soll sie gehen?
Rund 80 Prozent der erwachsenen Geflüchteten sind Frauen, davon mehr als drei Viertel ohne Partner in Deutschland. Viele Mütter müssen allein für ihre Kinder sorgen.4https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Forschungsberichte/fb41-ukr-gefluechtete.pdf?__blob=publicationFile&v=11
Die ehrenamtliche Übersetzerin Dranova sagt mit Blick auf die ersten Monate: „Es war schwierig zu sehen, was für schwere Fälle und Situationen reinkamen, bei denen es schon in der Ukraine Probleme gab. Hinzu kamen Sprachbarriere, Umzug, Stress … daraus ist eine noch schlimmere Situation entstanden.”
MedWatch konnte in den meisten Fällen eine Lösung finden. Mal war es eine passende Hausarzt-Praxis, mal eine onkologische Beratung durch das Deutsche Krebszentrum. Einige Male waren Geflohene in kleinen Dörfern gestrandet und MedWatch lotste sie zum nächsten Beratungszentrum für Geflohene.
E-Mail, März 2022 – Auf einem Auge sei sie bereits blind, eigentlich sollte sie schon operiert werden. Der Fall sei kompliziert. Sie ist noch in der Ukraine, aber ihre Familie würde alles geben, sie in eine Klinik zu bringen, wenn es dort eine Chance auf Hilfe gebe.
Die Ausnahmesituation, die Unklarheiten
E-Mail, März 2022 – Sie sei schwanger. Doch alle Kliniken und Ärzt:innen in Deutschland hätten sie bislang abgelehnt, weil sie noch nicht registriert ist. Was könne sie tun, damit es schneller geht?
E-Mail, März 2022 – Eine Frau mit BrustkrebsBrustkrebs In Deutschland ist Brustkrebs die zurzeit häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Das Risiko für ein Mammakarzinom steigt mit zunehmendem Alter. Bei Männern tritt er nur selten auf. Wird er frühzeitig erkannt bestehen sehr gute Heilungschancen durch operative Entfernung, Bestrahlung und Chemotherapie. Risikofaktoren sind auf der einen Seite das Geschlecht, auf der anderen Seite spielen Alter, genetische Veranlagung hormonelle Faktoren oder ein ungesunder Lebensstil eine wichtige Rolle. schreibt der Redaktion, dass sie in der Ukraine operiert werden sollte. Das sei dort nicht mehr möglich. Wer übernimmt die Kosten für eine OperationOperation Im medizinischen Kontext bezeichnet eine Operation (OP) ein chirurgisches Verfahren mit speziellen Instrumenten an einen Organismus. Hierbei wird Gewebe geschnitten oder geschlossen mit dem Ziel Erkrankungen, Verletzungen oder Deformitäten zu behandeln. Der Übergang bezüglich der Definition von einem medizinischen Eingriff hin zu einer Operation ist fließend. in Deutschland? Wo kann sie operiert werden?
Ob jemand medizinisch versorgt wird, ist von der jeweiligen Situation des Menschens abhängig und davon, wie weit die Registrierung fortgeschritten ist. Das verwirrt einige, insbesondere in der Anfangsphase. Es kommt vor, dass sich die Registrierung unverschuldet verzögert. Oder Behörden, Ärzte und Versicherungen geben widersprüchliche Informationen heraus. Schwierigkeiten bereiten mitunter fehlende medizinische Unterlagen, abweichende Behandlungsschemata sowie ArzneimittelArzneimittel Arzneimittel sind Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die angewandt werden, um Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder Beschwerden zu heilen, zu lindern oder zu verhüten. Es kann sich hierbei ebenfalls um Mittel handeln, die dafür sorgen, dass Krankheiten oder Beschwerden gar nicht erst auftreten. Die Definition beinhaltet ebenso Substanzen, die der Diagnose einer Krankheit nutzen oder seelische Zustände beeinflussen. Die Mittel können dabei im Körper oder auch am Körper wirken. Das gilt sowohl für die Anwendung beim Menschen als auch beim Tier. Die gesetzliche Definition von Arzneimitteln ist im § 2 Arzneimittelgesetz (AMG) enthalten.- und Impfstoffbezeichnungen, berichtet auch das Bundesministerium für Gesundheit auf eine Anfrage von MedWatch. Oder ungewohnte Abläufe im Gesundheitssystem verunsichern die Menschen, zum Beispiel in manchen Fällen lange Wartezeiten auf einen Termin beim Facharzt. Dranova, ehrenamtliche Übersetzerin im MedWatch-Projekt, sagt: „Das ist wenig nachvollziehbar, wenn man es nicht gewohnt ist. Die Menschen werden nervös. Sie brauchen Sicherheit.”
Die Unterschiede der Gesundheitssysteme für Geflüchtete aus der Ukraine
Hinzu kommen Unterschiede zwischen den Gesundheitssystemen in der Ukraine und den Ankunftsländern: Wie findet man Spezialisten? Wo bekommt man ein Rezept? Wer versichert einen? Welche Impfungen braucht das Kind? Verfahren etwa zur Kostenübernahme für die medizinische Grundversorgung unterscheiden sich regional: Erhält eine Patientin in einer Region zunächst Behandlungsscheine, bekommt sie in einer anderen womöglich schnell eine Versichertenkarte einer gesetzlichen Krankenversicherung.5https://www.who.int/ukraine/publications/m/item/health-service-needs-and-access-for-refugees-from-ukraine, 6https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/a-1876-2423
Iryna Stern unterstützte das MedWatch-Projekt von Wuppertal aus, wo sie auch in anderen Initiativen half. Stern sagt: „Die Mütter kamen mit Briefen von Ämtern, der Schule, der Krankenkasse, der Ausländerbehörde …” Am Anfang hätten sich viele Fragen um Impfungen gedreht und um den Zugang zu Fachärzt:innen. Manche hätten sich gefragt, warum sie nicht direkt einen Termin beim Facharzt bekommen, weil die Abläufe für sie ungewohnt waren.
Außerdem berichtet Stern, dass es insbesondere in den ersten Wochen Unklarheiten gab, auf welche Weise jemand in welche Krankenkasse7Das BMGBMG BMG ist die Abkürzung für das Bundesministerium für Gesundheit. Es erarbeitet Gesetzesentwürfe, Rechtsverordnungen sowie Verwaltungsvorschriften. Zu seinen Aufgaben gehört es die Leistungsfähigkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung sowie der Pflegeversicherung zu erhalten, zu sichern und weiterzuentwickeln. Es ist zuständig für die Reform des Gesundheitssystems. Wichtige Punkte sind zudem die Bereiche Gesundheitsschutz, Krankheitsbekämpfung und Biomedizin. Auch kümmert es sich und die Rahmenvorschriften für Herstellung, klinische Prüfung, Zulassung, Vertriebswege und Überwachung von Arzneimitteln und Medizinprodukten, sowie um die Sicherheit biologischer Arzneimittel wie Blutprodukte. Berufsgesetze für die Zulassung zu den bundesrechtlich geregelten Heil- und Gesundheitsberufen gehören ebenso zu seinem Aufgabenspektrum. schreibt: Seit dem 1. Juni 2022 haben hilfebedürftige geflüchtete Menschen aus der Ukraine Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB II oder SGB XII). SGB II-Leistungsempfänger:innen erhalten auf diese Weise Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und damit zum vollen Leistungskatalog der GKV. Wenn ukrainische Geflüchtete Mitglieder der GKV werden, können sie nach den gleichen Grundsätzen wie andere Versicherte auch eine Krankenkasse wählen. Machen sie dazu keine Angaben und bestand vorher keine Versicherung, ist das Jobcenter dafür zuständig, nach „objektiven Gesichtspunkten” eine Krankenkasse zu wählen. komme: „Manche KrankenkassenKrankenkassen Eine Krankenkasse ist der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Krankenkassen stellen den Versicherten Leistungen zur Verfügung, die nach Vorlage der elektronischen Gesundheitskarte in Anspruch genommen werden können. Die meisten dieser Leistungen sind im SGB V festgeschrieben. Krankenkassen sind organisatorisch sowie finanziell unabhängig und unterstehen der Aufsicht von Bund oder Ländern. Im Gegensatz zu gesetzlichen Krankenversicherungen sind private Krankenversicherungsunternehmen Aktiengesellschaften oder Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (VVaG). sagten ab. Dann, nach ein paar Wochen, ging es auf einmal doch.”
Die ehrenamtlichen Übersetzer:innen aus dem MedWatch-Projekt berichten aber ebenso von positiven Geschichten: etwa eine schnelle Überweisung an einen Spezialisten, hilfsbereite Behörden oder eine Krebstherapie, die reibungslos fortgesetzt wird.
Gesundheitsinformationen für Geflüchtete aus der Ukraine
E-Mail, März 2022 – Seine Mutter habe Krebs und müsse operiert werden. Medizinische Einrichtungen seien wegen der Bombardierungen geschlossen. Der Sohn fragt, ob man eine Versicherung in Deutschland abschließen könne, die auch Operationen bei Krebs abdeckt?
Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) schreibt auf eine Anfrage Anfang Juni, dass man mit Ausbruch des Krieges „schnell“ Infomaterial übersetzt und laufend aktualisiert habe – sei es zum Gesundheitswesen, zur Notfallversorgung oder zu speziellen Themen wie der CoronaCorona Mit Corona bezeichnet die Allgemeinbevölkerung zumeist SARS-CoV-2 (Severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2). Es ist ein neues Beta-Coronavirus, welches zu Beginn des Jahres 2020 als Auslöser der Krankheit COVID-19 identifiziert wurde. Coronaviren waren schon vor 2020 altbekannt. In Menschen verursachen sie vorwiegend milde Erkältungskrankheiten (teils auch schwere Lungenentzündungen) und auch andere Wirte werden von ihnen befallen. SARS-CoV-2 hingegen verursacht wesentlich schwerere Krankheitsverläufe, mit Aufenthalten auf der Intensivstation bis hin zum Tod. Der Virusstamm entwickelte und entwickelt seit seiner Entdeckung verschiedene Virusvarianten, die in ihren Aminosäuren Austausche aufweisen, was zu unterschiedlichen Eigenschaften bezüglich ihrer Infektiosität und der Schwere eines Krankheitsverlaufes führt. Seit Dezember 2020 steht in Deutschland ein Impfstoff gegen SARS-CoV-2 zur Verfügung.-Schutzimpfung. Die Infos seien breit gestreut worden, unter anderem über Broschüren,8https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/details/das-deutsche-gesundheitssystem-ukrainische-ausgabe.html Online-Portale, Social-Media-Kanäle, eine App, Poster an Bahnhöfen, Willkommens-SMS und Push-Nachrichten. Infos gingen auch in die Ukraine, zum Beispiel Flyer für Patient:innen vor der Evakuierung. Laut BMG hat das zentrale Hilfsportal der Bundesregierung Germany4Ukraine inzwischen einen „sehr guten Bekanntheitsgrad” erlangt. Zugleich erhielten Krankenhäuser in Deutschland Infomaterialien zu Kostentragung, Leistungen und Verfahren.
Daneben haben die Länder etwa niedrigschwellige Impfangebote,9https://www.mags.nrw/pressemitteilung/koordinierende-impfeinheiten-duerfen-gesundheits-checks-und-weitere-impfangebote schnelle Erstuntersuchungen und Lotsenstellen eingerichtet. Und Ärzt:innen seien über die Kassenärztliche Vereinigungen informiert worden.
Trotz Infos an unterschiedlichsten Orten und trotz offizieller Strukturen hängt viel von persönlichen Kontakten ab. Umso bedeutender sind für kranke Ukrainer:innen etwa Maßnahmen von der Zivilgesellschaft und NGOs, die direkte Verbindungen zu Gesundheitsleistungen herstellen. Das zumindest zeigt eine Untersuchung der WHO in Polen, Rumänien, der Slowakei und Slowenien.10https://www.who.int/ukraine/publications/m/item/health-service-needs-and-access-for-refugees-from-ukraine
Die Menschen würden insbesondere Informationen anderer geflüchteter Ukrainer:innen vertrauen, sagt die Ehrenamtliche Stern. Viele tauschten sich daher via Telegram aus, bildeten in den sozialen Medien Netzwerke und regionale Gruppen zur gegenseitigen Unterstützung. Auch Germany4Ukraine verweist auf Telegram-Gruppen.
E-Mail, März 2022 – Eine Frau schreibt, dass sie Diabetes habe und in einer Notunterkunft in Deutschland untergekommen sei. Sie schlafe schlecht und fühle sich miserabel. Doch sie werde nicht entsprechend medizinisch versorgt. Sie habe ein kleines Kind.
Schutzstatus und Leistungen
Anfang März setzt der Rat der EU erstmals die „Massenzustrom-Richtlinie” ein, die allen Ukrainer:innen vorübergehenden Schutz gewährt und ihnen unter anderem unmittelbar die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ermöglicht. Seit dem 1. Juni 2022 haben hilfebedürftige geflüchtete Menschen aus der Ukraine Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch und Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und den vollen Leistungskatalog der GKV. Im Gegensatz dazu sind Menschen, die aus anderen Ländern kommen und in Deutschland Asyl suchen, zunächst nicht krankenversichert.11https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/internationale-gesundheitspolitik/migration-und-integration/fluechtlinge-und-gesundheit/online-ratgeber-fuer-asylsuchende/allgemeine-informationen-zur-gkv.html Der Zugang anderer Schutzsuchender zur gesundheitlichen Versorgung ist deutlich beschränkter. Anfang 2023 fordern 61 Organisationen, alle nach gleichem Recht ins reguläre Sozialleistungssystem einzugliedern.
Nicht alle finden Zugang zu Infos und Versorgung
E-Mail, April 2022 – Ihr Kind habe eine Funktionsstörung der Speiseröhre. Sie haben Angst, nach Deutschland zu kommen, ohne zu wissen, wie es weiter behandelt wird.
Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte hat Geflüchtete aus der Ukraine in mehreren EU-Staaten zu ihren Erfahrungen befragt und die Ergebnisse im Februar 2023 veröffentlicht.12https://fra.europa.eu/en/publication/2023/ukraine-survey#publication-tab-1 Nur jede:r dritte Befragte schätzte sich selbst als gesund ein, jede:r zweite berichtete von lang anhaltenden Gesundheitsproblemen. Die meisten sagten zwar, dass sie ausreichend über ihre Rechte und verfügbare Dienstleistungen informiert waren. Doch die Umfrage ergab auch: Die Hälfte der Befragten ab 16 Jahren fanden nur schwer Zugang zur Gesundheitsversorgung. Sie warteten etwa lange auf einen Termin bei einer Fachärztin oder suchten erfolglos einen Therapieplatz. Schwierig waren vor allem Sprachbarrieren oder sie wussten schlichtweg nicht, wohin sie gehen oder wen sie kontaktieren sollten.
Gefährliche Falschinformationen im Umlauf
Erkenntnisse zur Versorgungslage in Deutschland
E-Mail, März 2023 – Ihr Kind sei ohne Darmausgang geboren worden, schreibt eine Frau. Sie habe Angst, ins Ausland zu reisen, ohne zu wissen, ob es dort behandelt würde. Lange habe sie auf ein Kind gewartet, sie liebe es, schreibt sie am Ende der Nachricht.
Sommer 2022
Eine Umfrage unter Hausärzt:innen im Sommer 2022 ergibt, dass Schwierigkeiten in der Versorgung vor allem in der Kommunikation und fehlenden Informationen liegen. Es gebe Bedarf an mehrsprachigen Informationen für Patient:innen, vor allem über das Gesundheitssystem, zu Hilfe bei psychischen Beschwerden, zu Kontaktstellen und zu Unterschieden im Arzneimittelumgang. Auch Infos für Praxisteams seien hilfreich, etwa bei Sprachbarrieren oder zum Umgang mit fehlenden Impfunterlagen.
März 2023
In Deutschland leben Ende März 2023 rund 1,07 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine. Laut Wissenschaftler:innen der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg sei noch zu wenig über ihren Gesundheitszustand bekannt.13https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC9996949/ Es sei hilfreich, auch die Ausgangslagen der Geflüchteten zu untersuchen und wie sie sich auf ihre Versorgung auswirken. Auch ein Vergleich mit anderen Gruppen geflüchteter Menschen sei sinnvoll, um die Wirksamkeit von Maßnahmen zu bewerten.
Herbst 2023
Für eine Studie des Forschungszentrums Migration, Integration und Asyl des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat man zwischen August und Oktober 2022 mehr als 11.000 Geflüchtete aus der Ukraine befragt. Erste Ergebnisse vom Februar 2023 geben Einblicke in die Lebenslagen der Menschen, einschließlich erster Infos zum subjektiven Gesundheitsempfinden.
Die meisten würden ihren Gesundheitszustand als verhältnismäßig gut einstufen. Rund zehn Prozent berichten von einem schlechten bis sehr schlechten Zustand. Rund ein Drittel benötigt medizinische Hilfe. Das psychische Wohlbefinden geflüchteter Kinder ist im Vergleich zu anderen Kindern niedrig, sie brauchen besondere Unterstützung. Außerdem äußerten laut der Studie viele der Befragten Unterstützungsbedarf beim „Erlernen der deutschen Sprache, bei der Arbeitssuche, bei der medizinischen Versorgung und bei der Wohnungssuche”.
Die Ergebnisse geben zudem Hinweise auf bereits bestehende Versorgungslücken in Deutschland. Zum Beispiel sind die Kapazitäten in der psychosozialen Unterstützung in Deutschland sowieso stark begrenzt. Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) schreibt, Deutschland komme seinen eigenen Verpflichtungen nicht nach. Auch Psychotherapeutin Juhl berichtet von zu wenig psychotherapeutischen Angeboten. Sie selbst könne trotz Umstellungen in der Praxis keine Patient:innen mehr aufnehmen. Und selbst wenn die Deutschkenntnisse mit der Zeit wachsen würden, trenne eine Therapie in Muttersprache davon Welten.
Die im vergangenen Jahr befragten Menschen sollen im Rahmen der Studie des BAMF erneut befragt werden. Daneben laufen weitere Studien, etwa zu Behandlungsverläufen und Ko-Infektionen von Geflüchteten aus der Ukraine in HIV-Behandlung.
Von der Soforthilfe zur langfristigen Versorgung
Zugang zum Arbeitsmarkt für medizinische Fachkräfte aus der Ukraine
Das BMG schreibt, dass nach Deutschland geflohene medizinische Fachkräfte aus der Ukraine „wegweisend” für die „Überwindung von Barrieren” seien. Ihnen soll ein schneller Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht werden und die Fortsetzung der Ausbildung. Außerdem können ukrainische Ärzt:innen unter bestimmten Voraussetzungen vorübergehend in Aufnahmeeinrichtungen oder ähnlichen Einrichtungen arbeiten.
Das BMG teilt weiter mit, dass sich Bund und Länder auf eine „gemeinsame Empfehlung zur Anerkennung von einer in der Ukraine absolvierten ärztlichen Ausbildung verständigt” haben. Das BMG sieht die Länder in der Pflicht, wenn es um die Berufsanerkennung ärztlicher Abschlüsse aus der Ukraine oder die Fortsetzung abgebrochener Gesundheitsausbildungen ukrainischer Geflüchteter geht. Zuständig sei die Gutachtenstelle für Gesundheitsberufe der Kultusministerkonferenz. Die von den Gesundheits- und Bildungsministerien auf Landesebene getragene Institution trat 2016 mit dem Ziel an, die Anerkennung von medizinischen Berufsqualifikationen zu beschleunigen. Angesichts des dramatischen Fachkräftemangels im Gesundheitswesen kommt dies einer Herkulesaufgabe gleich, die mit dem demografischen Wandel nicht gerade kleiner wird.
Zudem setzt das BMG auf KI-basierte Übersetzungslösungen und Erstanamnese-Assistenz und fördert ein Vorhaben zur psychosozialen (Live)-Chat-Beratung. Sprachmittlung gehört bislang nicht zum Leistungsumfang der GKV und ist nur in Einzelfällen möglich, Geflüchtete müssen die Kosten im Zweifel selbst tragen. Teilweise übernehmen Behörden die Kosten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Das BMG prüfe derzeit den Auftrag aus der Koalitionsvereinbarung, dass „Sprachmittlung auch mit Hilfe digitaler Anwendungen im Kontext notwendiger medizinischer Behandlung Bestandteil des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) wird”. Bereits 2016 hat der Deutsche Ärztetag gefordert, Dolmetscherkosten als notwendige Behandlungskosten anzuerkennen und im SGB V zu verankern.
Forderungen nach einer langfristigen Gesundheits-Strategie für Geflüchtete
Niemand weiß, wie und wann dieser Krieg enden wird. In einem Beitrag in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet fordern die Autor:innen, eine langfristige Strategie für die Gesundheit der ukrainischen Bevölkerung zu entwickeln. Aufnahmeländer müssten bestimmte Bereiche des Gesundheitswesens ausbauen, etwa die Versorgung psychischer Krankheiten und jene für Mütter und Kinder. Auch Übersetzungsleistungen sollten demnach besser zugänglich sein. Außerdem müssen sie auf die unterschiedlichen Gegebenheiten in den Regionen der Ukraine humanitär und entwicklungspolitisch reagieren.
Ungewissheit bleibt und die Situationen der Menschen, die fliehen müssen, sind vielfältig. Es müsse laut Studie des BAMF eine nachhaltige Basis geschaffen werden, um darauf zu reagieren und den Menschen die Teilhabe am Arbeitsmarkt, Bildung, Gesundheit und der Gesellschaft insgesamt zu ermöglichen. Und die Unterstützung solle auf einen längerfristigen Aufenthalt ausgerichtet werden, einschließlich längerfristiger Bleibeperspektiven.
Unsicherheiten bleiben
Die Fragen der Menschen an MedWatch zeigen, dass trotz Ankunft in einem Aufnahmeland wie Deutschland immer Unsicherheiten bleiben und nicht alle die Hilfe bekommen, die sie dringend benötigen.
E-Mail, Juni 2023 – Sie habe noch keine Krankenversicherung und sie habe kaum Geld, schreibt eine Frau. Aber sie benötige eine Gynäkologin. Sie fragt, wer ihr helfen könne.
E-Mail, Juni 2023 – Die Mutter sei seit vielen Jahren HIV-positiv, habe aber seit Wochen keine Medikamente. Die Registrierung laufe. Aber sie wüssten nicht, wo sie die speziellen Medikamente bekommen können.
Redaktion: Nicola Kuhrt, Sigrid März, Nicole Hagen
- 1https://www.laender-analysen.de/ukraine-analysen/
- 2https://www.thelancet.com/journals/lanepe/article/PIIS2666-7762(22)00051-5/fulltext
- 3https://reliefweb.int/report/ukraine/destruction-and-devastation-one-year-russias-assault-ukraines-health-care-system
- 4https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Forschungsberichte/fb41-ukr-gefluechtete.pdf?__blob=publicationFile&v=11
- 5https://www.who.int/ukraine/publications/m/item/health-service-needs-and-access-for-refugees-from-ukraine
- 6https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/a-1876-2423
- 7Das BMG schreibt: Seit dem 1. Juni 2022 haben hilfebedürftige geflüchtete Menschen aus der Ukraine Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB II oder SGB XII). SGB II-Leistungsempfänger:innen erhalten auf diese Weise Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und damit zum vollen Leistungskatalog der GKV. Wenn ukrainische Geflüchtete Mitglieder der GKV werden, können sie nach den gleichen Grundsätzen wie andere Versicherte auch eine Krankenkasse wählen. Machen sie dazu keine Angaben und bestand vorher keine Versicherung, ist das Jobcenter dafür zuständig, nach „objektiven Gesichtspunkten” eine Krankenkasse zu wählen.
- 8https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/details/das-deutsche-gesundheitssystem-ukrainische-ausgabe.html
- 9https://www.mags.nrw/pressemitteilung/koordinierende-impfeinheiten-duerfen-gesundheits-checks-und-weitere-impfangebote
- 10https://www.who.int/ukraine/publications/m/item/health-service-needs-and-access-for-refugees-from-ukraine
- 11https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/internationale-gesundheitspolitik/migration-und-integration/fluechtlinge-und-gesundheit/online-ratgeber-fuer-asylsuchende/allgemeine-informationen-zur-gkv.html
- 12https://fra.europa.eu/en/publication/2023/ukraine-survey#publication-tab-1
- 13https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC9996949/